Heimkinder bekommen nur eine Mini-Entschädigung

Berlin. Die Opfer des Kinder- und Jugendheimsystems der 50er und 60er Jahre in der alten Bundesrepublik können nur auf geringe Entschädigungszahlungen hoffen. Begleitet von heftigen Protesten Betroffener wurde gestern in Berlin der Schlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung vorgelegt

Berlin. Die Opfer des Kinder- und Jugendheimsystems der 50er und 60er Jahre in der alten Bundesrepublik können nur auf geringe Entschädigungszahlungen hoffen. Begleitet von heftigen Protesten Betroffener wurde gestern in Berlin der Schlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung vorgelegt. Er sieht einen Fonds von 120 Millionen Euro vor, dessen Finanzierung sich Bund, Länder und die Kirchen teilen. Bisher haben sich rund 2500 Menschen an die Anlaufstellen für Heimkinder gewendet. Experten gehen von 30 000 Anträgen aus. Der "Verein ehemaliger Heimkinder" hatte eine pauschale Entschädigung von 300 Euro Rente pro Monat für jeden Betroffenen oder einmalig 54 000 Euro gefordert.

Einweisung oft rechtswidrig

Der Runde Tisch unter Leitung der grünen Politikerin Antje Vollmer (Foto: dapd) war vor zwei Jahren vom Bundestag eingerichtet worden, nachdem zahlreiche Petitionen, aber auch Buchveröffentlichungen auf das Schicksal der insgesamt rund 800 000 Insassen von Jugendheimen in der Zeit von 1949 bis 1975 hingewiesen hatten. Dem Gremium gehörten Vertreter des Bundes, der Länder, der Kirchen und einige Betroffene an. In seinem Schlussbericht nennt der Runde Tisch die damalige Heimerziehung unumwunden "Unrecht" und bittet die Betroffenen um Verzeihung. Geschildert wird, dass schon die Einweisung in die Heime oft rechtswidrig war. Eltern konnten sagen, sie kämen mit ihren Kindern nicht zurecht, oder Jugendliche wurden als "verwahrlost" aufgegriffen, weil sie etwa in der Öffentlichkeit rauchten. In den Heimen selbst herrschte ein Regime aus drakonischen Strafen, Demütigungen und Zwang zur unentlohnten Arbeit. Der Anlaufstelle des Runden Tisches wurden drastische Vorgänge geschildert, etwa die zwangsweise Verabreichung von Nahrung, wenn ein Kind nicht essen wollte. Wenn es sich erbrach, musste es dann das Erbrochene auch noch essen. Vielen wurden zur Ruhigstellung Psychopharmaka gegeben. Es gab selten eine Schulausbildung. Auch sexueller Missbrauch kam vor. Die Aufsicht funktionierte nicht oder schaute weg; die Kinder hatten praktisch keine Chance, sich zu wehren. Es habe ein "System Heimerziehung" gegeben, sagte Vollmer, das erst in den 70er Jahren aufgehört habe. Der Rechtsstaat sei damals noch unreif gewesen. Jedoch hätten viele Vorkommnisse auch nach damaligem Recht geahndet werden müssen.

Nach dem Vorschlag des Runden Tisches, der nun dem Bundestag zur weiteren Beschlussfassung übergeben wird, sollen in allen Ländern Anlaufstellen für die Betroffenen eingerichtet werden, in denen sie Beratung und Hilfe bekommen. Für Arbeit, die in den Heimen geleistet wurde, sollen die Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden. Dafür stehen 20 Millionen Euro bereit. Weitere 100 Millionen Euro enthält ein "Fonds für Folgeschäden", aus dem auf Antrag Therapien und Hilfsmittel bezahlt werden können. Der Runde Tisch riet dem Bundestag auch, den Begriff der "Verwahrlosung" aus dem Grundgesetz zu streichen.

Menschenrechtsverletzungen

Die Vertreter der Heimkinder am Runden Tisch taten sich schwer mit der Zustimmung zu dem Kompromiss. Der Spatz auf der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach, meinte Hans-Siegfried Wiegand (Foto: dapd). Er hob hervor, dass der Runde Tisch die festgestellten Missstände faktisch als Menschenrechtsverletzungen anerkannt habe. Allerdings war Wiegand, der einst dem "Verein ehemaliger Heimkinder" vorstand, bei den Heimkindern selbst zuletzt umstritten gewesen. Der Verein hatte von Vollmer gefordert, ihn durch andere Vertreter zu ersetzen und auch Rechtsanwälte des Vereins als Teilnehmer zuzulassen. Das hatte Vollmer jedoch abgelehnt. Die jetzige Vereinsvorsitzende, Monika Tschapek-Gütner, nannte die Empfehlungen des Runden Tisches auf einer "Gegenpressekonferenz" in Berlin gestern "eine weitere Demütigung" für die Betroffenen. "Wir werden alle Gerichtswege gehen, zur Not bis zum Europäischen Gerichtshof."

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