Harte Attacken und ein weicher Kern

Hannover · Ohne die Steuerpläne von SPD und Grünen sähe die FDP vier Monate vor der Wahl blass aus. Nun wollen die Liberalen als „Stimme der Vernunft“ die Mitte zurückerobern – mit Rösler und Brüderle an der Spitze.

"Machen Sie mal kurz die Augen zu", bittet Philipp Rösler. Der FDP-Vorsitzende kommt nach 40 Minuten zum Schluss seiner Rede. Ein Lachen geht durch die Nürnberger Messehalle. Die Regie hat ein Foto eingeblendet. Es zeigt Grünen-Chefin Claudia Roth und den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Sie stehen vor dem Schriftzug "Das Wir entscheidet" und halten sich die Hand. Geschossen wurde das Bild vor zwei Wochen auf dem SPD-Parteitag in Augsburg. "Ich habe Sie ja gewarnt", sagt Rösler. "Wollen Sie, dass diese beiden entscheiden?" Wieder Lacher. Nein, das will hier niemand.

Die FDP und ihr Vorsitzender beschwören in allen Reden und Inszenierungen des Parteitages das Feindbild Rot-Grün. "Ich werde dafür kämpfen", ruft Rösler aus, "dass die niemals in Deutschland etwas zu entscheiden bekommen." Gesicht und Stimme drücken dabei eine Leidenschaft aus, die man bei ihm, der sonst gern den Spieler gibt, so nur selten spürt. Die Grünen nennt er "Spießbürger", die alles verbieten wollten, einen "Partei gewordenen Tugendwahn". Rot-Grün plane nichts weniger als einen "Raubzug durch die Mitte der Gesellschaft". Wofür? Um damit die Euro-Schulden anderer Länder zu bezahlen.

Das Ganze hat eine klare Funktion: Die eigenen Mitglieder sollen für die entscheidende Schlacht mobilisiert werden, zum "Richtungswahlkampf, ja Haltungswahlkampf", wie Rösler ausruft. Die aktuellen Steuer-Beschlüsse der Grünen sind dafür die Steilvorlage. Nicht nur in Röslers Rede. Eine Extraportion Prügel gibt es vom liberalen Spitzenkandidaten Rainer Brüderle, der sich voll im Angriffsmodus befindet: Rot-Grün wolle die Menschen vom Staat abhängig machen. "Ökosozialistischer Gleichschritt" brüllt Brüderle in den Beifall hinein und ist phasenweise kaum noch zu verstehen, so sehr überschlägt sich seine Stimme. Grünen-Chef Jürgen Trittin sei ein "Graf Dracula für die deutsche Mittelschicht", die er aussaugen wolle. Auch die saarländische CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer gerät wegen ihrer Forderung nach einer Anhebung des Spitzensteuersatzes in Brüderles Feuer: "Schwarz lackierter Sozialismus."

Und im eigenen Laden? Da ist man von manchem "Sozialdemokratismus" auch nicht so ganz entfernt. So lautet jedenfalls die Kritik des sächsischen Landeschefs Holger Zastrow. Auch viele andere denken so. Ein Vorstoß, ähnlich wie SPD und Grüne ebenfalls eine Reform des Ehegattensplittings zu fordern, scheitert mit deutlicher Mehrheit. Freilich gibt es da schon eine intensive Debatte. Und die Forderung der liberalen Frauen, eine 40-Prozent-Frauenquote in allen Gremien einzuführen, wird gar nicht auf die Tagesordnung genommen.

Doch beim Thema "Lohnuntergrenze" dringt der schwelende Konflikt mit Macht an die Oberfläche. Letztlich geht es um eine Kurskorrektur. Philipp Rösler selbst macht sich dafür stark, sehr engagiert. "Ich will nicht, dass man ein Geschäftsmodell dauerhaft darauf aufbauen kann, den Menschen nur drei Euro die Stunde zu zahlen." Der Vorstand schlägt vor, dass regional unterschiedliche Lohnuntergrenzen durch Gewerkschaften und Arbeitgeber in gemeinsamen Kommissionen festgelegt werden können. Auch Brüderle und der langjährige Vorsitzende und Außenminister Guido Westerwelle sind inzwischen dafür.

Doch obwohl Rösler mehrfach betont, dass das Modell nichts mit dem gesetzlichen Mindestlohn gemein habe, wie ihn SPD, Grüne und Linke fordern, finden die internen Kritiker genau das. "Wenn wir heute den Mindestlohn beschließen", sagt der als Euro-Rebell bekannt gewordene Abgeordnete Frank Schäffler ungerührt, "folgen wir dem Mainstream der Linken". Es wird eine intensive Debatte, wie man sie bei Parteien nur selten erlebt. Der tote Graf Lambsdorff wird bemüht, weil er sich angeblich "im Grabe" umdrehen würde, und die Ost-Landesverbände warnen vor der Vernichtung von Arbeitsplätzen. "Das soll liberal sein? Mit mir nicht", droht Zastrow wütend.

Am härtesten argumentieren die Jungen Liberalen gegen ein Aufweichen der bisherigen Linie: Ihr Vorsitzender Lasse Becker löst einen kleinen Jubelsturm unter den rund 660 Delegierten aus, als er reihenweise Zitate gegen Mindestlöhne vorliest. "Allesamt von dieser Parteiführung", sagt Becker und zeigt triumphierend auf das Vorstandspodium. Gesundheitsminister Daniel Bahr hält dagegen: Die Marktwirtschaft brauche Regeln. Und Brüderle schmettert in den Saal: "Wir sind für soziale Marktwirtschaft, wir sind nicht für Manchester-Kapitalismus." Als die Stimmen ausgezählt werden, ist selbst die Führung überrascht. Gleich im ersten Wahlgang setzt sich ihr Vorschlag mit 57 Prozent durch; ein Stichentscheid ist nicht erforderlich.

Zum Thema:

Auf einen BlickDie FDP hat gestern folgende Positionen beschlossen, die sie nach der Bundestagswahl umsetzen möchte. Haushalt: Die schwarze Null beim Staatsdefizit und der folgende Schuldenabbau sollen so schnell wie möglich kommen. Steuern: Die FDP will höhere Steuern verhindern. Bei Spielräumen sollen Bürger und Firmen entlastet, der "Soli" ab 2014 abgebaut werden. Das Ehegattensplitting bleibt, die Erbschaftsteuer wird umgebaut. Euro: Ein stabiler Euro ist deutsche Staatsräson. Der Schutz vor Inflation gehört ins Grundgesetz. Die Europäische Zentralbank (EZB) muss unabhängig bleiben. Europa: Die Europäische Union soll auf lange Sicht per Volksabstimmung ein europäischer Bundesstaat werden. Mindestlohn: Die FDP erlaubt wie CDU/CSU weitere Lohnuntergrenzen, aber regional und auf Branchen begrenzt. Einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn will die Partei nicht. Banken: Die FDP ist für Kontrolle, aber gegen neue Steuern für Großbanken. Aktionäre von Börsen-Konzernen erhalten mehr Rechte zur Kontrolle von Managergehältern. Energie: Die Stromsteuer soll sinken und die Ökostromförderung radikal reformiert werden. Soziales: Sozialleistungen für Bedürftige und Arbeitslose sollen in einem liberalen Bürgergeld zusammengefasst werden. Rente: Eine starre Altersgrenze wie bei der Rente mit 67 halten die Liberalen für falsch. Arbeitnehmer sollen ab dem 60. Lebensjahr frei über den Renteneintritt entscheiden können. Familie: Ziel ist die volle rechtliche Gleichstellung von Homo-Ehen mit der normalen Ehe. Frauen: Die FDP will mehr Frauen in Führungsverantwortung, feste Quoten lehnt die Partei jedoch ab. dpa

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