Gottesdienst oder lieber Familieneinkauf?

Karlsruhe. Das Grundgesetz ist meist abstrakt und manchmal nebulös. Doch Artikel 139 der Weimarer Verfassung, der ins Grundgesetz übernommen wurde, ist für jeden lesbar: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Ein klares Bekenntnis zur Sonntagsruhe - meint man

Karlsruhe. Das Grundgesetz ist meist abstrakt und manchmal nebulös. Doch Artikel 139 der Weimarer Verfassung, der ins Grundgesetz übernommen wurde, ist für jeden lesbar: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Ein klares Bekenntnis zur Sonntagsruhe - meint man. Doch ob die beiden großen Kirchen mit ihrer Klage gegen die großzügigen Berliner Ladenöffnungsgesetze beim Bundesverfassungsgericht Erfolg haben werden, ist nach der Anhörung von gestern ungewiss.

In dem Verfahren wird sich der Erste Senat zum Beispiel mit folgender Frage befassen müssen: Gehört der Erlebniseinkauf zur seelischen Erhebung? Einmal angenommen, der Mensch des Jahres 2009 findet seine "seelische Erhebung" nicht nur bei Adventspredigt und Posaunenchor, sondern auch beim sonntäglichen Shopping mit der ganzen Familie: Könnten dann die acht Richter nicht zum Ergebnis kommen, der im Jahr 1919 formulierte Artikel 139 - übersetzt auf die Bedürfnisse der Konsumgesellschaft - stehe dem Einkaufen am heiligen Sonntag nicht ganz so strikt entgegen?

In dem Karlsruher Grundsatzverfahren zum Schutz der Sonntagsruhe stellen sich gleich zwei fundamentale Fragen. Erstens: Wie weit reicht dieser Schutz - ist er bereits verletzt, wenn die Läden in der Hauptstadt zehn Mal pro Jahr, also an einem Sechstel aller Sonn- und Feiertage, öffnen dürfen? Und zweitens: Können die Kirchen diesen Schutz überhaupt einklagen?

Richter Brun-Otto Bryde legte den Finger in die Wunde: Welche Bedeutung die Ladenöffnung überhaupt für die Kirchen hat, "ist mir bisher nicht wirklich plausibel geworden". An sechs der zehn verkaufsoffenen Sonntage dürften die Läden ohnehin erst ab 13 Uhr öffnen, Zeit genug also, den Gottesdienst zu besuchen. "Ist der Freiraum am Vormittag den Kirchen nicht genug?" Außerdem: In islamischen Ländern seien die Moscheen freitags voll. Auch ohne Feiertagsschutz.

Man kann die Frage auch anders formulieren: Gehört der Sonntag allein den Kirchen? Geht es um den Schutz der Gottesdienste, um die Verteidigung der Adventszeit vor weiterer Kommerzialisierung? Oder steht letztlich die gesellschaftspolitische Frage im Mittelpunkt, wie sich der wöchentliche Rhythmus von Arbeit und Freizeit gestaltet?

Schon im Kaufhof-Urteil von 2004 hatte Karlsruhe deutlich gemacht, dass der Schutz der Sonntagsruhe keine rein religiöse Angelegenheit ist: "Die Regelung zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung aber auch auf die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung", hieß es. Schon damals schrieb das Gericht außerdem: "Sonntägliche Vergnügungen werden nicht unterdrückt, selbst dann nicht, wenn die Veranstalter gewerblich handeln." Wenn aber in der sozialen Wirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Shopping zur "sonntäglichen Vergnügung" par excellence geworden ist, dann dürfte dies auch den verfassungsrechtlichen Spielraum zur Sonntagsöffnung erweitern.

Dieser Trend ist unverkennbar, das wurde in der Karlsruher Anhörung mehr als deutlich. Zu den zehn verkaufsoffenen Sonntagen in Berlin kommen mehr als 260 Tankstellen und 180 Bahnhofsläden, dazu die Geschäfte im Flughafen, geöffnet an 52 Sonntagen im Jahr. Auch in anderen Ländern sind die Regeln nicht so restriktiv, wie die Buchstaben des Gesetzes vermuten lassen: In Niedersachsen dürfen sonntags auch außerhalb der vier verkaufsoffenen Sonntage Waren des "täglichen Kleinbedarfs" verkauft werden - inklusive Kleidung, Tonträger oder Toilettenartikel, sagte Friedhelm Hufen, Prozessvertreter des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels. Und in Schwarzwälder Kurorten hätten die Läden 40 Sonntage jährlich geöffnet - dort seien übrigens die Kirchen brechend voll.

Auf einen Blick

Der Sonntag ist ursprünglich der dem Sonnengott geweihte zweite Tag der spätantiken Planetenwoche. Das Judentum feiert den Sabbat als letzten Tag der Woche, die Sabbatruhe ist für Juden religiös streng geregelt. Durch das Christentum wurde der Sonntag als "Tag der Auferstehung Christi" zum "Tag des Herrn" und von daher der erste Tag der Woche.

Im Laufe des Mittelalters kam es zu kirchlichen Geboten, die die Christen zur Teilnahme am Sonntagsgottesdienst anhielten. Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert machten sich die Gewerkschaften für die Sonntagsruhe stark. Verfassungsrechtlich geschützt wurde der Sonntag in Deutschland mit der Weimarer Verfassung von 1919. In Artikel 139 heißt es: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Diese Garantie steht seit 1949 im Grundgesetz. epd

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