Gewalt, Zerstörung – und eine Wahl

Donezk · Mit einem neuen Staatschef will die Ukraine nach monatelangem Chaos nach vorne schauen. Aber die Umstände der Wahl sind surreal. Im Osten des Landes herrscht Gewalt und Millionen Menschen können nicht wählen.

In dem besetzten elfstöckigen Verwaltungsgebäude, das als Zentrale der fiktiven "Volksrepublik Donezk" dient, stinkt es nach Müll. Schwitzende Anhänger der separatistischen Bewegung schleppen sich die Wendeltreppe hinauf - die Aufzüge sind "aus Sicherheitsgründen" außer Betrieb. Die Aktivisten haben hier Pflastersteine, Molotow-Cocktails und angeblich auch Waffen gelagert, um sich gegen die "faschistische Junta" zu schützen, wie sie die westlich orientierte ukrainische Regierung nennen. Weiter nördlich - im Raum um Lugansk und Slawjansk - tobt seit Tagen die Gewalt. Regierungstruppen und prorussische Einheiten bekämpfen sich mit Gewehren, Granaten und Mörsergeschützen. Dutzende Soldaten sterben oder werden schwer verwundet. Weinende Menschen stehen hilflos neben den Trümmern ihrer Häuser - zerstört und ausgebrannt. In den Straßen stehen von Kugeln durchlöcherte Autos.

Selten standen die Vorzeichen für eine Wahl in der Ukraine schlechter als in diesen Tagen. Trotzdem sollen die Menschen in dem zerrissenen Land am Sonntag einen neuen Präsidenten bestimmen. EU, USA und auch Russland hoffen, dass sich dadurch die chaotische Situation stabilisieren könnte.

Die größten Chancen werden dem reichen Schokoladenfabrikanten Pjotr Poroschenko eingeräumt. Mit weitem Vorsprung führt der 48-Jährige in den Umfragen. Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko liegt demnach nicht einmal bei zehn Prozent. Doch angesichts von insgesamt mehr als 20 Kandidaten muss Poroschenko vermutlich in eine Stichwahl. Poroschenko gilt als Finanzier der Protestbewegung auf dem Maidan in Kiew - im Winter 2013/14 ebenso wie bereits bei der Orangenen Revolution 2004. Damals stieg er vom Multimillionär zum Milliardär auf. Nun verspricht er, im Falle seines Wahlsieges das Herz seines Imperiums zu verkaufen, den Süßwarenkonzern Roshen. Von seinem Nachrichtensender möchte er sich aber nicht trennen.

"Die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts selbst ist nicht so wichtig, wichtig ist die Bestimmung eines legitimen Staatsoberhauptes", betont der Politologe Wladimir Fessenko. Schon seit Mitte Februar ist der zweitgrößte Flächenstaat Europas ohne gewählte Führung. Damals floh Präsident Viktor Janukowitsch unter dem Druck der Maidan-Protestbewegung ins russische Exil.

Die tiefen Narben der brutalen Gewaltexzesse von damals sind auch drei Monate später nicht zu übersehen. Der Unabhängigkeitsplatz im Herzen Kiews, der Maidan, ist zu einem Schrein für die etwa 100 getöteten Regierungsgegner geworden. Grablichter und Blumen säumen die Barrikaden aus Autoreifen. Die Fotos der "Himmlischen Hundertschaft" sind unübersehbar. "Gedenke ihrer!", fordert ein großes Banner an der Institutskaja-Straße, auf der Scharfschützen die Demonstranten - und Polizisten - unter Feuer nahmen. Wie ein Fanal steht das ausgebrannte Gewerkschaftshaus rußgeschwärzt an der Ecke des Maidan. Noch immer campieren Hunderte auf dem zentralen Platz. So wie Andrej aus Winniza. Der 36-Jährige in Tarnuniform sagt, er harre schon seit Monaten hier aus, schlafe im Zelt. Auch er setzt auf Poroschenko.

Der Oligarch verspricht wie die meisten Kandidaten einen klaren Westkurs und wettert gegen die Separatisten. "Der Donbass versteht nur die Sprache der Gewalt", schimpft Poroschenko. Zugleich wird aber ihm am ehesten zugetraut, auch eine Versöhnung mit Russland zu Stande zu bringen. Zuletzt sendete Moskau Signale für eine Entspannung. Kremlchef Waldimir Putin versprach den Abzug der russischen Truppen im Grenzgebiet zur Ukraine. Zudem versprach er gestern, das Wahlergebnis zu respektieren. "Wir arbeiten doch mit jenen Menschen zusammen, die heute an der Macht sind. Natürlich werden wir auch mit den neu gewählten Strukturen kooperieren", sagte Putin. Von einer Aberkennung sprach er freilich nicht.

In der Ostukraine werden zahlreiche Menschen mit dem Ausgang ohnehin nichts zu tun haben. Mehr als zwei Millionen - bei rund 35 Millionen Wahlberechtigten - werden vermutlich nicht abstimmen können. Die prorussischen Machthaber in den fiktiven "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk wollen es nicht zulassen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort