Getrennte Betten nach der LiebesheiratGrüne liegen in neuer Umfrage fünf Punkte vor der SPD

Berlin. Der Höhenflug der Grünen hält an: In einer Umfrage von "Stern" und RTL rangieren sie mit dem Rekordwert von 28 Prozent weiter klar vor der SPD mit 23 Prozent und könnten demnach den Kanzler in einer grün-roten Regierung stellen

Berlin. Der Höhenflug der Grünen hält an: In einer Umfrage von "Stern" und RTL rangieren sie mit dem Rekordwert von 28 Prozent weiter klar vor der SPD mit 23 Prozent und könnten demnach den Kanzler in einer grün-roten Regierung stellen. Die Parteiführung versucht mit aller Kraft, eine Debatte darüber abzublocken: "Wir stehen wahrscheinlich in den Umfragen so gut da, weil wir uns mit den relevanten Themen auseinandersetzen, und nicht mit virtuellen Personaldebatten", sagte Grünen-Chefin Claudia Roth (Foto: dapd).Die Grünen verbessern sich in der Umfrage um einen Punkt, die SPD verliert einen Punkt. Die Union legt in der Forsa-Befragung einen Punkt zu, bleibt mit 31 Prozent aber weiter unter ihrem Wahlergebnis von 2009 (33,8 Prozent). Die FDP gibt einen Punkt ab und sackt erneut auf ihr Rekordtief von drei Prozent. Die Linke stagniert bei acht Prozent.

Die besten Chancen bei den Grünen auf den Posten des Regierungschefs hat laut Forsa im direkten Vergleich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) der frühere Außenminister Joschka Fischer, den sich 31 Prozent der Befragten wünschen würden. Die Fraktionschefs Jürgen Trittin und Renate Künast schneiden mit 28 und 27 Prozent schlechter ab als der Ex-Vizekanzler. Merkel liegt aber in allen drei Vergleichen mit 48 bis 52 Prozent weit vorn. Weitaus geringer wäre allerdings der Abstand zwischen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Merkel mit 33 zu 39 Prozent. Steinmeier hätte damit auch größere Sympathien als SPD-Chef Sigmar Gabriel, der im Vergleich zu Merkel mit 22 zu 49 Prozent schlechter als die Grünen-Politiker läge. dpa

Stuttgart. Das Haus der Architekten, hoch über Stuttgarts Kessel gelegen, ist ein symbolischer Ort geworden. Dort handeln Grüne und SPD ihren Koalitionsvertrag aus. Am Ende soll eine neue Landesregierung stehen. Und zum ersten Mal in der Bundesrepublik ein grüner Ministerpräsident an der Spitze. Der Ort, an dem so viel Geschichtsträchtigkeit ausgehandelt wird, kann deshalb kaum repräsentativ genug sein. Die Atmosphäre im vorgelagerten Garten erinnert eher an intellektuelle Lustwandelei in Akademien. Man flaniert, intensiv redend, durch das Grün, oder sitzt, disputierend bei einem Latte Macchiato unterm ausladenden, Schatten spendenden Baum. "Wir achten routinemäßig darauf, dass Biologisches angeboten wird", antwortet die Grünen-Vorsitzende Silke Krebs auf die Frage nach einer Verköstigung, die die neue politische Zeit in Baden-Württemberg angemessen widerspiegelt.

Doch die in den adrenalingefluteten Anfängen "Liebesheirat" genannte Koalition fand sich ernüchternd rasch in den Mühen des Alltags wieder. Nach einer Woche Verhandlungen bekannte Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann, die Liebenden schliefen "in getrennten Betten". SPD-Landeschef Nils Schmid ließ sich zu hormonellen Dingen ungern vernehmen. Er gibt sich staatstragend.

Trotz der Umfragen galt ein Regierungswechsel bis zuletzt als unwahrscheinlich. Der konservative Landstrich hatte sich am Ende noch immer für die CDU als König und viele Jahre für die FDP als Königsmacher entschieden. Und die 39 Prozent, die die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Stefan Mappus holte, war mitnichten ein orkanartiges Wegfegen von der Macht. Nur zwei Prozentpunkte mehr von der FDP, und es hätte dieses politische Erdbeben in Baden-Württemberg nie gegeben. Umso mehr schweißt dieser Triumph die Partner zusammen. Im Architektenhaus geht es freundlich zu. Es gehört fast zum Kodex, gute und harmonische Stimmung bei dieser Zeitenwende zu demonstrieren.

Doch mit jedem Tag der nunmehr dreiwöchigen Verhandlungen graben sich mehr Sorgenfalten in die Gesichter der Verhandler. Der Grund heißt Stuttgart 21. Winfried Kretschmann nennt es in der "Süddeutschen Zeitung" erstmals deutlich ein "Dilemma", dass ein Volksentscheid das Projekt wahrscheinlich nicht zu Fall bringen kann. Er gibt zu, "in diesen Fragen nicht klar genug" gewesen zu sein und "Fehler gemacht zu haben". Der Grüne, dem sie immer Biedermaier attestieren, hofft, die Wähler mögen ihm Reue abnehmen.

Stuttgart 21 ist der große Stolperstein, bei dem sich keine Einigung abzeichnet. Keine zumindest, bei der beide Parteien ihre Glaubwürdigkeit und das Gesicht wahren könnten. Die Grünen haben mit ihrem Wahlversprechen, das Projekt zu kippen, eine zu große Erwartung gerade auch bei ihren neuen Wählern geweckt. 24,2 Prozent, das waren 12,5 Prozent mehr als 2006. Doch das sind keine zuverlässigen Parteianhänger, sie gehen im Zweifel wieder zur CDU oder FDP zurück, wenn ihnen nicht behagt, was Rot und Grün aushandeln. Der Wähler, das flüchtige oder, wie Kretschmann sagt, "schleckige" Wesen.

Statt Stefan Mappus ist Nils Schmid, der Chef der Dafür-SPD, der Buhmann im Schlossgarten: "Baut keinen Scheiß!", mahnen die Demonstranten auf Schildern mit seinem Konterfei. Etwas kleinlaut wehrt sich der grüne Verkehrsexperte Werner Wölfle gegen "despektierliche Äußerungen". Ihm schwant, dass eine grüne Regierungspartei sich solches Anrempeln nicht mehr gefallen lassen kann.

Eine Koalition im Spreizgang. Zwischen Sparen und Ausgeben, zwischen Zielgruppenansprache und programmatischer Verbreiterung, zwischen Versprechen und Realisierbarkeit. Der frühere Ministerpräsident Erwin Teufel, den Kretschmann so gern zitiert, mahnte, die Neuen in der Villa Reitzenstein müssten allmählich von der Gesinnungs- zur Verantwortungsethik umschwenken. Noch in dieser Woche soll, wie ein Verhandler sagt, "Butter bei die Fische", muss der Ehevertrag konkret werden.

Am ersten Tag der Koalitionsgespräche schwärmte der frühere SPD-General Wolfgang Drexler, Regieren sei viel besser als Opponieren - "reine Wellness". Inzwischen bläht er schon mal die Brust, um sich von den Grünen abzugrenzen: "Wir sind eine Partei mit 140-jähriger Geschichte." Die SPD holte ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Ohne die Grünen hätte sie kaum eine Chance auf Regierungsbeteiligung. "Das Schlimmste ist, dass ich jetzt die Sozen mögen muss", stöhnt ein Obergrüner. Es sind winzige Scharmützel. Grüne und SPD eint keineswegs nur die Liebe zur Macht. Pure Gestaltungsfreude kommt beim Thema Bildung auf. Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich treiben Grüne wie Rote um. Es ist ihre einende Vision ebenso wie der Atomausstieg. Nur bei Knackpunkt-Themen, wenn die Argumente dünn und die Unterschiede manifest werden, drücken Ressentiments durch. Neues und altes Selbstbewusstsein stoßen dann bisweilen mit Wucht aufeinander.

"Das Schlimmste

ist, dass ich

jetzt die Sozen

mögen muss."

Ein führender Grüner aus Baden-Württemberg

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