Geteiltes Leid und viele drängende Fragen

Oslo. Norwegen sucht seinen Weg zurück in den Alltag nach dem furchtbaren Massenmord vom Wochenende

 Am Rosen-Marsch in Oslo für die Opfer der Anschläge nahmen 200 000 Menschen teil. Foto: dpa

Am Rosen-Marsch in Oslo für die Opfer der Anschläge nahmen 200 000 Menschen teil. Foto: dpa

Oslo. Norwegen sucht seinen Weg zurück in den Alltag nach dem furchtbaren Massenmord vom Wochenende. Dabei helfen sich die fünf Millionen Bürger im Norden Europas auch selbst: mit bewegenden Trauer-Versammlungen Hunderttausender in praktisch allen Städten, mit einem Meer von Rosen und mit den für einen solchen Gewaltexzess ungewöhnlichen, nach vorn gerichteten Worten aus dem Königshaus und von Norwegens Regierungschef Jens Stoltenberg."Heute sind die Straßen mit Liebe gefüllt", sagte Kronprinz Haakon (Foto: dpa) am späten Montagabend gleich dreimal in seiner Rede vor 200 000 Osloern. Das war fast die Hälfte der Gesamteinwohnerzahl. Auf dem Heimweg legten viele Teilnehmer des "Rosenzuges" ihre mitgebrachten Blumen irgendwo an passender Stelle ab. Die Kameras des TV-Senders NRK konnten am Tag danach gigantische Blumenmeere als Symbol für die stille Trauer unter den Skandinaviern zeigen.

Jetzt kehrt allmählich der Alltag zurück - und mit ihm kommen auf das Land auch eine Menge unangenehmer und konfliktreicher Fragen zu: Was war alles schiefgegangen, bis die Polizei nach erst einer Stunde am Ort des schrecklichen Massakers gegen Teenager auf der Insel Utöya zur Stelle war? War und ist der Attentäter Anders Behring Breivik, ein rechtsradikale Islamhasser, wirklich nur ein wahnsinniger Einzeltäter oder vielleicht doch das Produkt einer zunehmend verhärteten Grundstimmung in Norwegens Gesellschaft?

Breiviks Verteidiger hält seinen Mandanten für eine tief gestörte Persönlichkeit. Geir Lippestad sagte gestern in Oslo: "Die ganze Sache deutet darauf hin, dass er geisteskrank ist." Diese Linie werde er vor Gericht verfolgen. Sollte Breivik dem nicht folgen, "muss er sich einen anderen Anwalt suchen". Der 32-Jährige hatte Lippestad selbst gewählt. Sein Anwalt bezeichnet den Attentäter als "sehr kalte Person". Er habe "kein Mitgefühl mit den Opfern gezeigt", sagte Lippestad. Breivik glaube, er befinde sich in einem Krieg. "Und wenn du in einem Krieg bist, kannst du Dinge wie diese machen", erläuterte der Anwalt die Sicht seines Mandanten.

Sollte das Gericht den Attentäter für unzurechnungsfähig erklären, wäre die dauerhafte Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung wahrscheinlich. Die von der Justiz angekündigte psychiatrische Untersuchung dürfte nach Angaben des Anwalts bis zu zwölf Monate dauern. Auch der Prozess werde eine "ausgesprochen lange und komplizierte Angelegenheit". Die Staatsanwaltschaft erwägt nach einem Bericht der Zeitung "Aftenposten" eine Anklage wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Haft. Die Maximalstrafe nach dem Terror-Paragrafen im Strafgesetzbuch sind 21 Jahre im Gefängnis.

Die Polizei geht nach eigenen Angaben allen Hinweisen auf mögliche Komplizen nach. Polizeisprecher Sturla Heinriksbö wollte sich aber nicht zu Einzelheiten äußern. Von zwei weiteren gewaltbereiten Zellen in Norwegen hatte Breivik bereits bei seiner Anhörung vor Gericht am Montag gesprochen. Die britische Polizei geht Berichten nach, dass Breivik Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen des Landes hatte. Mehrere Zeitungen nannten Details, wonach der 32-Jährige im vergangenen Jahr eine Demonstration der ultrarechten English Defence League (EDL) besucht habe und mit deren Mitgliedern über das Internet in Kontakt gewesen sei. Nach Berichten von "Independent" und "Daily Telegraph" hatten rund 150 EDL-Mitglieder über das Internet-Netzwerk Facebook Verbindungen zu Breivik.

"Diesen Mann hätte nicht einmal Stasi-Deutschland stoppen können", wehrte sich die Chefin des norwegischen Geheimdienstes PST, Janne Kristiansen, in der Zeitung "Dagbladet" gegen den Vorwurf, man habe Breiviks Überwachung nach durchaus registrierten Chemikalien-Einkäufen zu lasch betrieben. Siv Jensen, Vorsitzende der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, musste Vorwürfe wegen "geistiger" Mitverantwortung für die Anschläge zurückweisen. "Geschmacklos", sagte Jensen, deren Partei 2009 nicht zuletzt durch Forderungen nach Verschärfung der Zuwanderungspolitik 22,9 Prozent der Stimmen bekam. Sie ist Norwegens zweitstärkste Partei.

Dass der sozialdemokratische Ministerpräsident Stoltenberg und seine Partei ihre Rolle als führende politische Kraft durch die schrecklichen Ereignisse am Wochenende für lange Zeit zementiert haben, steht in Oslo außer Frage. Die Arbeiterpartei war auf denkbar grausame Weise das Ziel beider Anschläge. Auch als Chef dieser Partei hat Stoltenberg sein Land souverän und für alle überzeugend durch das Chaos und den Schock der folgenden Tage gelenkt. Aber auch auf den 52-jährigen Regierungschef dürften bald kontroverse Fragen zur liberalen norwegischen Gesellschaftsstruktur zukommen: Wie konnte der Massenmörder so einfach und legal an zwei Schusswaffen gelangen? Warum konnte er seine aufwendigen Mordpläne ohne Probleme mit massiven Kreditkarten-Schulden finanzieren?

Noch aber sind die Opfer nicht zur letzten Ruhe gebettet. Und für die im September anstehenden Kommunalwahlen haben sich alle Parteien auf die Aussetzung des Wahlkampfs bis Mitte August geeinigt. "Heute sind die Straßen mit Liebe gefüllt."

 Am Rosen-Marsch in Oslo für die Opfer der Anschläge nahmen 200 000 Menschen teil. Foto: dpa

Am Rosen-Marsch in Oslo für die Opfer der Anschläge nahmen 200 000 Menschen teil. Foto: dpa

Norwegens Kronprinz Haakon

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort