Geschichte: mangelhaft

Berlin. 17. Juni 1953? Da gibt es doch in Berlin diese große Straße. Und wer baute eigentlich die Mauer? Na ja, vielleicht die Amerikaner. NS-Deutschland, eine Diktatur? Wieso, da gab es doch Wahlen. So ähnlich dürfte es in den Köpfen vieler Jugendlicher in Deutschland aussehen - zumindest legt dies eine neue Studie der Freien Universität (FU) Berlin nahe. Zeitgeschichtswissen: fünf

Berlin. 17. Juni 1953? Da gibt es doch in Berlin diese große Straße. Und wer baute eigentlich die Mauer? Na ja, vielleicht die Amerikaner. NS-Deutschland, eine Diktatur? Wieso, da gab es doch Wahlen. So ähnlich dürfte es in den Köpfen vieler Jugendlicher in Deutschland aussehen - zumindest legt dies eine neue Studie der Freien Universität (FU) Berlin nahe. Zeitgeschichtswissen: fünf. Das bescheinigt die Untersuchung. Rund 7500 Neunt- und Zehntklässler aus fünf Bundesländern kreuzten dazu in den vergangenen drei Jahren Fragebögen an. Etwa 40 Prozent können demnach nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. "Das ist erschreckend", sagte Prof. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat (FU) gestern.Schon die Vorgängeruntersuchung von 2007 zum DDR-Wissen der Schüler in Ost und West hatte für einigen Wirbel gesorgt: Im Westen interessierte man sich kaum für die DDR, im Osten war das Bild bei vielen beschönigend verklärt, kam dabei heraus. Dieses Mal ging das Forscherteam weiter und befragte die Jugendlichen auch zu ihrem Wissen über NS-Zeit, alte Bundesrepublik und wiedervereinigtes Deutschland. Das Ergebnis: wenig besser. Quer durch alle Bundesländer und Schulformen zeigte sich, dass die Schüler über die NS-Zeit noch am meisten wissen, deutlich weniger über die alte Bundesrepublik, die DDR und das wiedervereinigte Deutschland.

Es gipfelt in der Gesamteinschätzung, dass nur rund die Hälfte der Schüler den NS-Staat und nur gut ein Drittel die DDR als Diktatur einordnet. Umgekehrt bezeichnet nur etwa die Hälfte der Schüler die alte Bundesrepublik und nur etwa 60 Prozent das wiedervereinigte Deutschland als Demokratie. "Die Geringschätzung historischen Wissens schlägt hier voll durch. Aber ohne Kenntnisse keine Kompetenzen", sagte Schroeder. Viel stärker als Schulform oder Herkunft der Eltern sei der Einfluss von Kenntnissen bei der Beurteilung der Systeme zu Buche geschlagen: "Und an dieser Stelle sind vor allem die Schulen gefragt", sagte Schroeder. In der Tat gaben vier von fünf Schülern an, ihr Geschichtswissen vor allem aus dem Unterricht zu beziehen. "Und generelles Interesse an Geschichte haben alle geäußert", so Schroeder. Aber die Schulen griffen es nicht auf, die Schulzeitverkürzung verstärke das Problem. In Nordrhein-Westfalen, dem Schlusslicht der fünf Länder, habe man bis zum vergangenen Jahr noch nach einem Uralt-Lehrplan unterrichtet, der eine "Diskussion über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung" vorschlug.

Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte zu der Studie: "Es muss alle Verantwortlichen in Deutschland wachrütteln." Er forderte die Länder auf, ihren Beitrag in den Schulen deutlich zu verstärken. Der Bund habe in den vergangenen Jahren die Unterstützung für historische Gedenkstätten bereits aufgestockt.

Bei der Studie schnitten die Schüler aus Thüringen und Sachsen-Anhalt am besten ab, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg, am wenigsten wussten die Schüler aus Nordrhein-Westfalen. Berlin und Brandenburg, die bei der Vorgängeruntersuchung zum DDR-Wissen schlecht abgeschnitten hatten, hatten nicht mitgemacht. Schüler aus dem Saarland wurden nicht befragt.

Meinung

Eklatante

Missstände

Von SZ-RedakteurJörg Wingertszahn

Kann es eine größere Unwissenheit geben, als Diktatur und Demokratie zu verwechseln? Nein - das ist genauso, wie schwarz und weiß oder rechts und links nicht unterscheiden zu können. Wieder einmal legt eine Studie eklatante Schwächen im deutschen Bildungswesen offen, und die Ergebnisse sind alarmierend. Mündige Bürger werden so jedenfalls nicht erzogen. Offenbar hat der allerorten tobende Streit um die richtige Schulform das Ringen um den richtigen Unterricht verdrängt. Wie sonst ist es zu erklären, dass man in Nordrhein-Westfalen bis zum vergangnen Jahr nach einem Lehrplan unterrichtet hat, der "die Möglichkeit einer Wiedervereinigung" vorgesehen hat? Man möchte den Ländern am liebsten ihre Zuständigkeit entziehen und die Schulpolitik zentralistisch gestalten.

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