Gefälschte Pillen überschwemmen Europa

Brüssel. Sie sehen aus wie Medikamente und sind gerade deshalb besonders gefährlich. Mal enthalten sie so viel medizinische Wirkstoffe wie ein Schluck Wasser, im anderen Fall einen regelrechten Giftmix aus völlig falschen Bestandteilen. Beides ist gleich schlimm

Brüssel. Sie sehen aus wie Medikamente und sind gerade deshalb besonders gefährlich. Mal enthalten sie so viel medizinische Wirkstoffe wie ein Schluck Wasser, im anderen Fall einen regelrechten Giftmix aus völlig falschen Bestandteilen. Beides ist gleich schlimm. "Selbst wenn ein Arzneimittel unwirksame Stoffe enthält, kann es dazu führen, dass Menschen daran sterben, weil sie glauben, ihre Krankheit mit wirksamen Mitteln zu behandeln", sagt EU-Industriekommissar Günter Verheugen.

Brüssel reagiert seit Jahren aufgeschreckt über die immer größer werdende Zahl gefälschter Medikamente, die die Zollbeamten aus dem Verkehr ziehen. Doch so schlimm wie derzeit war es noch nie: 2004 beschlagnahmten Ermittler in der EU lediglich 34 gefälschte Arzneimittel, 2006 waren es bereits 270. In den letzten zwei Monaten des Jahres 2009 zogen die Fahnder sage und schreibe 34 Millionen Tabletten aus dem Verkehr - von Antibiotika über Krebs- und Schmerzmitteln. Neuerdings sogar Präparate gegen die Schweinegrippe. Allein das unter anderem für das Saarland zuständige Zollfahndungsamt Frankfurt hat in seinem Einzugsbereich im vergangenen Jahr 1,2 Millionen gefälschte Medikamente sichergestellt. Verheugen: "Das hat alle Befürchtungen übertroffen. Jede Fälschung von Medikamenten ist versuchter Massenmord." Experten schätzen, dass 2010 jede fünfte Tablette, Pille oder Salbe innerhalb der EU nachgemacht wurde.

Nach Angaben der US-Behörde DFA, die für Lebensmittel und Drogen zuständig ist, werden im kommenden Jahr weltweit 68 Milliarden Euro Umsatz mit gefährlichen Pillen gemacht. Nun will die Kommission reagieren und denkt über verschärfte Maßnahmen wie neue fälschungssichere Siegel und Barcodes auf den Packungen nach.

Verheugens Klage erfolgt nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt. Der scheidende Kommissar bangt um eines der wichtigsten Projekte seiner Amtszeit: das so genannte Pharma-Paket, in dem zahlreiche Richtlinien der EU gebündelt werden sollen. Doch die Arbeiten treten auf der Stelle, weil der SPD-Politiker vor allem die Informationsverbote der Branche lockern will. So sollen Patienten etwa im Internet besser über Präparate und deren Wirkstoffe und Unverträglichkeiten informiert werden. Ursprünglich war sogar von einem Ende des Werbeverbotes die Rede gewesen. Das ist vom Tisch. Stattdessen plädieren auch die mit dem Thema befassten Europa-Abgeordneten inzwischen für eine möglichst solide Lösung. "Man muss das Werbeverbot beibehalten, aber trotzdem seriöse Informationsquellen schaffen", sagt die CSU-Parlamentarierin Anja Weisgerber. Und auch ihre SPD-Kollegin Dagmar Roth-Behrendt plädiert für verständliche Lösungen zugunsten von Patienten: "Es darf nicht sein, dass jeder Betroffene Englisch sprechen muss, um sich auf amerikanischen Internetseiten die gewünschten Informationen zusammenzustellen." Ein Grund für die Zunahme getürkter Arznei sei die zunehmende Selbstmedikamentation von Patienten, die im Internet ihre Symptome suchen, daraus eine Krankheit ableiten und sie schließlich selbst behandeln. Nicht selten fallen sie Fälschern in die Hände.

Der Präsident der saarländischen Apotheker-Kammer, Manfred Saar, sagt daher: "In einer Apotheke können sich die Kunden sicher sein, weil unsere Vertriebskette transparent ist und überprüft wird." Außer im Internet sollten Kunden auch beim Kauf von Medikamenten im Ausland vorsichtig sein.

Trotz seiner Warnungen dürfte Verheugen allerdings die Fertigstellung seines Gesetzespakets nicht mehr im Amt des EU-Kommissars erleben. Die Gesundheitsminister haben die Vorschriften erst in der Vorwoche auf das nächste Jahr vertagt. "Jede Fälschung von Medikamenten ist versuchter Massenmord."

Günter Verheugen,

EU-Kommissar

Auf einen Blick

Was kann man tun, um sich zu schützen?

Keine Medikamente einnehmen, die lose verschickt werden. Vorsicht bei Verkäufern, die rezeptpflichtige Präparate auch ohne ärztliche Verschreibung abgeben. Seriöse Online-Apotheken werben für ihre Produkte nicht per Spam-Mail. Vorsicht, wenn vertraute Arzneimittel-Verpackungen fremd erscheinen - veränderte Kartons sind verdächtig

Worauf sollte man beim Kauf achten?

Wer absolut sicher gehen will, sollte Arznei nur in einer Apotheke in Deutschland oder im Europäischen Wirtschaftsraum kaufen. Die meisten Hersteller kennzeichnen ihre Produkte durch Marker, Wasserzeichen, Mikrozeichen oder Etiketten. Experten raten, nur solche Medikamente einzunehmen. dr

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