Gabriel auf dem Pfad der Vernunft

Berlin · Ausführlich hat SPD-Chef Gabriel auf dem Parteitag die Gründe für die Wahlniederlage analysiert – ohne mit sich selbst zu hart ins Gericht zu gehen. In einer Koalition mit der Union will er die Prinzipien der SPD schützen.

Gerhard Schröder und Franz Müntefering haben es wohl gerochen und sind gar nicht erst nach Leipzig gereist. Sigmar Gabriel gibt vor den 600 SPD-Parteitagsdelegierten eine schonungslose Analyse der Wahlniederlage ab. Zwei der Gründe, die der Parteivorsitzende nennt: die "Basta-Politik" des Ex-Kanzlers. Und die Rente mit 67, die Müntefering durchgesetzt hat. In einer neuen großen Koalition dürfe man "nicht wieder gegen das Selbstverständnis der SPD verstoßen". Harte Töne gegen die Vorgänger. Der Beifall für diese Rede ist mau. Bei seiner Wiederwahl bekommt Gabriel 83,6 Prozent der Stimmen, acht Prozent weniger als 2011.

Gabriel stellt viele alte Gewissheiten in Frage, bietet aber keine neuen an. Außerdem stößt er einige vor den Kopf. Die Frauen zum Bespiel. Gabriel beschreibt die Kluft zwischen den sozialdemokratischen Mandatsträgern und ihren Wählern. Längst werde man als Teil des Establishments wahrgenommen, als "die da oben". Aber man müsse wieder die Brücke zum "Kern der Arbeitsgesellschaft" schlagen. Als Beispiel nennt er die SPD-Forderung nach einer Frauenquote in Aufsichtsräten. Da gehe es "ein bisschen viel um das Penthouse der Gleichstellung". Wichtiger sei doch die Zusammensetzung von Schulleitungen oder Sparkassenvorständen. Die Berliner Bundestagsabgeordnete Eva Högl, die über das Thema gerade mit der CDU verhandelt, findet das unfair. "Damit wird unsere Verhandlungsposition regelrecht ausgehebelt", sagt sie. Dabei strahle es doch nach unten aus, wenn oben in den Unternehmen mehr Frauen vertreten seien.

Gabriel neigt nicht zur Selbstkritik. Zwar sagt er zu Beginn, dass er selbstverständlich die "Gesamtverantwortung" für die Wahlniederlage trage. Aber was dann folgt, lässt sich mit "Alle schuld, außer Sigi" überschreiben. Selbst Peer Steinbrück wird nicht verschont. Viele meinten ja, Regierungsprogramm und Kandidat hätten nicht zusammengepasst, sagt Gabriel. Das greife zu kurz. Allerdings wolle er auch nicht bestreiten, "dass etwas dran ist". Das ist nicht eben freundlich gegenüber dem Kanzlerkandidaten, den der Parteitag kurz vorher aufs politische Altenteil verabschiedet hat.

Gabriel nennt als weitere Ursache die fehlende Attraktivität der SPD für Normalverdiener, auch für kleine und mittlere Unternehmer, und nimmt als Beispiel die steuerpolitischen Forderungen. Man habe den Spitzensteuersatz erhöhen und die Vermögenssteuer einführen wollen, es aber abgelehnt, "denen, die jeden Cent umdrehen", mehr zu geben. Zum Beispiel durch eine Abschwächung der "Kalten Progression". Das sei falsch gewesen. Kein Wort darüber, dass er selbst dieses Steuerprogramm mitentwickelt hat.

Gabriel will die SPD in die große Koalition führen. Aber anders als es Schröder und Müntefering 2005 taten. Viele Mitglieder und Wähler hätten wegen der Agenda 2010 und der Zusammenarbeit mit der CDU den Eindruck gehabt, die SPD verrate ihre Prinzipien. Das will Gabriel diesmal nicht zulassen. "Mit uns wird es keine politische Liebesheirat und keine Zwangspartnerschaft geben", sagt er. Es gehe um eine "befristete Koalition der nüchternen Vernunft".

Die meisten SPD-Redner sehen sich ermuntert, in der Debatte noch allerlei Forderungen an die neue Regierung zu formulieren. Die SPD ist jetzt losgelassen, zumal in Leipzig bei nur einer Gegenstimme beschlossen wird, sich nach 2017 für Bündnisse mit der Linkspartei zu öffnen. Die Koalitionsverhandlungen werden nun eher noch komplizierter. Gestern Abend sprach sich der Bundesparteitag zudem dafür aus, das vor zwei Jahren abgeschaffte Parteipräsidium wieder einzuführen.

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HintergrundSaar-SPD-Chef Heiko Maas bezeichnete die Rede von Sigmar Gabriel beim Parteitag in Leipzig als "ernsthaft" und "nachdenklich". Der Vorsitzende habe die Seele der Partei getroffen. "Der SPD geht es in den Verhandlungen um eine große Koalition nicht um bloßes Mitregieren, sondern um einen echten Politikwechsel." Ein Bündnis mit der Union komme nur zustande, wenn es klare Fortschritte für gute Arbeit, bezahlbare Energiepreise und faire Zukunftschancen gebe. red

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