Interview mit Meinungsforscher Matthias Jung „Für viele ist die Entscheidung abgeschlossen“

Saarbrücken · Der Chef der Forschungsgruppe Wahlen sieht die SPD in der Falle, das Kanzler-Rennen aber noch offen – und verteidigt seine Zunft.

Wahlforscher Matthias Jung warnt die Parteien, ihre Ausgangslage mit der rosaroten Brille zu betrachten. Das lehre die Militärstrategie.

Wahlforscher Matthias Jung warnt die Parteien, ihre Ausgangslage mit der rosaroten Brille zu betrachten. Das lehre die Militärstrategie.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Vier Wochen vor der Bundestagswahl rücken auch die Meinungsforscher in den Fokus. Einer der bekanntesten in Deutschland ist Matthias Jung, Geschäftsführer der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen. Sie ermittelt unter anderem das ZDF-Politbarometer. Im SZ-Interview spricht der 1956 in Speyer geborene Volkswirt über die Chancen von Martin Schulz und die Kritik an seinem Gewerbe.

Wenn man bei privaten Wett­anbietern derzeit einen Euro auf die Kanzlerschaft von Martin Schulz nach der Bundestagswahl setzt, bekommt man im Erfolgsfall neun Euro, bei Angela Merkel sind es nur 1,08 Euro. Wo würden Sie da Ihr Geld einsetzen?

JUNG Mit Wetten habe ich es nicht so. Aus der Sicht der Bevölkerung gibt es aber einen ganz eindeutigen Befund. Da liegt Merkel bei der Frage, wen man lieber im Kanzleramt sieht, klar vorn. Der  Abstand ist so groß, dass Merkel bei der K-Frage sicher auch am Wahltag vorne liegen wird. Selbst dann, wenn sich im Laufe des Wahlkampfs bei der SPD die Reihen fester schließen. Nur: Wir wählen am 24. September keinen Kanzler, sondern Parteien. Gewinner ist, wer die Mehrheit für eine bestimmte Koalition bekommt. Und da ist die Frage wesentlich offener als bei der Kanzlerpräferenz. In der aktuellen Gemengelage kann keiner seriös sagen, welche Koalition am Ende als Sieger vom Platz geht – mit wem als Kanzler.

Also ist die Wett-Quote von fast 9:1 für Merkel zu hoch gegriffen?

JUNG Natürlich. Auch wenn es aus heutiger Sicht nicht ganz plausibel erscheinen mag: Rot-Rot-Grün oder eine Ampel sind nicht undenkbar.

Anfang März waren Union und SPD in Ihren Umfragen nur noch zwei Punkte auseinander. Nun sind es 16. Was hat den großen Sprung der SPD unter Martin Schulz im Frühjahr ausgemacht, und warum war er so schnell wieder weg?

JUNG Das hing sicher damit zusammen, dass die Nominierung von Schulz so überraschend kam. Mir hat sich sofort die Analogie zu Rudolf Scharping aufgedrängt, der 1993 auch mit sehr vielen Vorschusslorbeeren als SPD-Kanzlerkandidat gestartet ist. Auch hier wurde ein in der breiten Bevölkerung relativ unbeschriebenes Blatt zum Hoffnungsträger der SPD – Scharping führte bei der K-Frage schnell sehr deutlich vor Helmut Kohl. Aber als der Kandidat bekannter wurde und die SPD bei der Europawahl schlecht abschnitt, war der Hype schnell vorbei. Er hatte keine belastbare Basis in Form von Wertschätzung und Image. Auch bei Schulz war der Hype sehr nebulös, ist schnell verfallen. Diesmal war es die Saarland-Wahl, die die Luft aus der Blase rausgelassen hat.

Martin Schulz ging durch die Decke, dann sackte er ab. Eigentlich wartet man seitdem auf eine Pendelbewegung nach oben. Aber vergebens. Was raten Sie Schulz?

JUNG Hype ist Hype. Einen zweiten kriegt man nie hin. Erst gab es die Langeweile, weil Merkel alternativlos schien. Nach Schulz‘ Nominierung im Frühjahr haben die Leute angefangen, darüber nachzudenken, ob sie mal jemand anderes als Kanzler haben wollen. Dieses Gedankenexperiment ist dann spätesten zur NRW-Wahl wieder ad acta gelegt worden. Und damit ist auch die Entscheidung zwischen Merkel und Schulz für viele weitgehend abgeschlossen.

Das ist frustrierend für die SPD.

JUNG Ich habe auch keine Idee, wie die SPD derzeit stärkste Partei werden könnte – angesichts der Größenordnung des Abstands zur Union. Das liegt im Grunde daran, dass die SPD ihre grundsätzlichen strategischen Entscheidungen seit dem Abgang von Gerhard Schröder nicht auf die Reihe gebracht hat. Sie sitzt zwischen den Stühlen von Linken, Grünen und Union. Merkel hat in der gleichen Zeit die Union in der Mitte positioniert, wo sie ihre Wahlen gewinnt. So lange die SPD sich nicht strategisch festlegt, kann sie keinen konsistenten Weg gehen.  Versuche von Gabriel oder Schulz, sich neu zu positionieren, erschienen immer wieder sehr erratisch und widersprüchlich. Und reißen an der jeweils anderen Front Gräben auf.

Die SPD, vor allem Schulz, setzt auf das Thema Soziale Gerechtigkeit. Warum punktet sie da nicht, das Thema liegt den Menschen doch am Herzen?

JUNG Soziale Gerechtigkeit ist der SPD durchaus auf den Leib geschneidert. Es ist ein Muss-Thema für einen Sozialdemokraten. Und natürlich haben wir sichtbare soziale Probleme, auch Brennpunkte. Aber die betreffen nur eine Minderheit direkt. Die Mehrheit fühlt sich ökonomisch und sozial nicht schlecht aufgestellt. Daher verfängt das Thema nicht mit Blick auf die Gesamtbevölkerung. Hinzu kommt die vermeintliche „Sozialdemokratisierung“ der Union unter Merkel. Die Union tritt nicht radikal neoliberal auf wie im Wahlkampf 2005, was als soziale Kälte ausgelegt wurde. Und wenn Martin Schulz behauptet, die Kanzlerin vertrete sozialdemokratische Politik, kann er schlecht sagen, dass von ihr alles Übel kommt. Zudem schielte er zwischendurch auf ein Bündnis mit der FDP – da zielt der Vorwurf der sozialen Kälte Richtung Union kaum. Wir haben mehrmals gefragt, wem mehr soziale Gerechtigkeit zugetraut wird. Das ist schon eher Schulz, aber sehr viele sehen keinen großen Unterschied zu Merkel. Soziale Gerechtigkeit ist wichtig für den Zusammenhalt von SPD-Wählern und Spitzenkandidat. Das Thema reicht aber nicht, um in Mehrheiten hinter der SPD zu versammeln.

Kann der rauere Ton der Außenpolitik noch was drehen?

JUNG Generell interessiert Außenpolitik bei Wahlentscheidungen weniger, wenn es nicht gerade um Krieg und Frieden geht. Hauptthema ist die Sicherheit, und zwar in drei Dimensionen: ökonomische, soziale und innere Sicherheit. Wem der Wähler zutraut, diese am ehesten zu gewährleisten, der bekommt den entscheidenden Zuspruch. Außenpolitik schafft Aufreger, aber sie ist nicht das zentrale Wahl-Motiv.

Sie äußern sich öffentlich kaum inhaltlich. Aber fehlt Ihnen ein Thema in diesem Wahlkampf?

JUNG Eigentlich nicht. Man muss den Wahlkampf auch nicht intensiv über jedes Detail führen. Wir haben keine Bevölkerung aus Hobbypolitikern, die sich durch Wahlprogramme wühlt. Das heißt nicht, dass sie unpolitisch ist. Sie verhält sich nur so wie in anderen Lebensbereichen: Viele Entscheidungen und Meinungen werden auf Basis des gesunden Menschenverstands getroffen, weil die Menschen sich ein natürliches Urteilsvermögen zutrauen. Sie haben Erfahrungen mit Personen und Parteien gemacht, und wenn diese nicht grundlegend erschüttert werden, ändern die Menschen ihr Wahlverhalten nicht so sehr. Das beschreibt relativ gut die Konstellation bei dieser Bundestagswahl.

Sie haben 2009 von einer erfolgreichen Strategie der asymmetrischen Demobilisierung durch die Union gesprochen. Der konfliktarme Wahlkampf habe SPD-Wähler verleitet, nicht zu wählen. Erkennen Sie dieses Muster in diesem Jahr?

JUNG Anfangs sah es so aus, als wäre ein solcher Wahlkampf für die Union diesmal nicht möglich. Weil insbesondere durch das Flüchtlingsthema und die AfD eine Konstellation gegeben war, die Entpolarisierung und Entemotionalisierung eigentlich nicht zulässt. Inzwischen aber geht es wieder ein Stück in diese Richtung, weil die AfD durch ihre Kontakte nach ganz rechts und ihre Zerstrittenheit an Power verloren hat und objektiv die Brisanz aus dem Thema Flüchtlinge raus ist.

Also lohnt es sich für Merkel wieder, auf Zeit zu spielen, die Luft rauszunehmen?

JUNG Wir haben eine sehr friedliche politische Grundstimmung, auch wegen der ökonomischen Lage. Die ideologischen Zeiten, in denen sich Menschen für Politik begeisterten, sind zwar vorbei. Aber sie sind vergleichsweise zufrieden, sehen wenig Veränderungsnotwendigkeit. Es gibt keine Wechselstimmung. Da ist starke Emotionalisierung und Polarisierung eher unnatürlich. Und von Auseinandersetzungen, wie sie zu Zeiten von Franz Josef Strauß und Herbert Wehner gepflegt wurden, würden sich die Menschen heute angewidert abwenden. Diese Zuspitzung entspricht nicht dem Zeitgeist.

Ihre Zunft steht in diesen Wochen wieder im Fokus, nach den Vorhersagen zu Brexit und Trump sogar unter Beobachtung.

JUNG Es gab Leute, die nicht genau hingeschaut haben und dann meinten, die Demoskopen hätten versagt.

Beim Brexit gab es Nachwahlbefragungen, die das Nein vorne sahen.

JUNG Abgesehen davon, dass wir das nicht waren: Beim Brexit bewegte sich die Vorhersage bei 48 zu 52. Das muss man, wenn man die Fehlermarge berücksichtigt, als Unentschieden bezeichnen.  Wenn dann mal 52 zu 48 rauskommt, ist das normalen statistischen Rahmenbedingungen geschuldet. Und bei  Trumps Wahlsieg war es von vielen Kommentatoren dilettantisch, nur auf die nationalen  Umfragen zu schauen – wo Hillary Clinton tatsächlich mehr Stimmen bekam.

Bei der Olympia-Abstimmung in Hamburg, wo die Forschungsgruppe sonntags eine Mehrheit der Ja-Sager prognostiziert hatte, gilt das aber nicht.

JUNG Das war ein Flopp. Bei diesem Referendum mit überwiegend Briefwählern haben wir zum ersten Mal versucht, das Ergebnis mit einer telefonischen Befragung am Wahlsonntag zu prognostizieren.  Das ist in die Hose gegangen, weil wir viele Leute gar nicht erreicht haben. Das machen wir so nie wieder.

Im Saarland erinnert sich der ein oder andere an die Wahl 1999, als Ihre 18-Uhr-Prognose die SPD vor der Union sah – und später doch CDU-Mann Peter Müller jubelte.

JUNG Stimmt, damals ging es um einen Sitz mehr oder weniger. Aber aus der jüngeren Vergangenheit habe ich keine Prognosen mit einem politisch falschen Ergebnis in Erinnerung. Wir haben natürlich die Methoden verbessert. Bei den Exit-Polls befragen wir heute mehr Leute als damals. Wir betreiben ein empirisches Geschäft. Wir machen Erfahrungen und machen Fehler. Daraus lernen wir.

Zum Beispiel?

JUNG Bei den Wahlen im März 2016 hatten wir zu große Fehler bei den Umfragewerten der AfD. Wir hatten eine zu geringe Dunkelziffer angenommen von Leuten, die ihre Wahlabsicht zugunsten der AfD verschweigen. Das haben wir korrigiert. Bei den Wahlen seitdem haben wir die AfD sehr korrekt wiedergegeben.

Oskar Lafontaine hat den Wahlforschern unterstellt, die Linke systematisch zu unterschätzen.

JUNG Als die Linke im Saarland erstmals stark zulegte, hatten wir tatsächlich diesen Effekt. Lafontaine hat uns das in den folgenden Wahlkämpfen immer wieder polemisch untergejubelt, aber die Zahlen in den folgenden Jahren haben gestimmt.

Viele Leute sind heute im Festnetz kaum zu erreichen, nutzen Smartphones. Ist Ihr Umfrage-Geschäft  schwieriger geworden?

JUNG Technisch nicht unbedingt. Mehr Probleme bereitet, dass es weniger stabile Bindungen an die Parteien gibt. Wahlabsichten verändern sich schneller. Dem tragen wir durch häufigere Umfragen Rechnung. Und indem wir damit näher an die Wahltermine herangehen. Seit 2013 weisen wir donnerstags vor Landtags- und Bundestagswahlen noch eine Umfrage aus. Damit wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, die letzten Trends nicht mehr mitzubekommen.

Mit der Umfrage kurz vor der Wahl üben Sie aber unter Umständen erheblichen Einfluss aus. Schließlich wählen viele Wähler strategisch.

JUNG Taktische Wähler gab es schon immer. Es ist besser, die Menschen haben dafür eine aktuelle Grundlage als veraltete, möglicherweise falsche Zahlen, die sie in die Irre leiten.

Sind Sie zu den Umfragen eher als Mathe-Fan gekommen, der sich für Politik interessiert, oder als Polit-Junkie, der Mathe kann?

JUNG Mathe ist für unseren Job nicht so zentral, das wird überschätzt. Was wir machen, ist relativ einfache Statistik. Wenn schon, bin ich Polit-Junkie. Und die Ökonomie schadet auch nichts, weil sie hilft, gesellschaftliche Prozesse systematisch zu analysieren. In meinem Studium habe ich mich aber auch viel mit Militärstrategie beschäftigt. Die hat noch mehr mit Parteien und Wahlen zu tun als Mathematik.

Welche Lehre können die Wahlkämpfer daraus ziehen?

JUNG Eine ganz zentrale Erkenntnis aus der Militärstrategie ist: Man muss peinlich darauf achten, eine brutal neutrale Lage-Analyse zu machen. Wer sich bei der Lagebeurteilung in die Tasche lügt, kann keine sinnvolle Strategie darauf aufbauen. Den Fehler machen viele in der Politik: Sie beobachten den Wählermarkt mit der rosaroten Brille, und wundern sich, das ihre Strategie nicht verfängt.

Waren Sie schon mal froh, dass Ihre eigene Wahlprognose falsch war?

Interview mit Meinungsforscher Matthias Jung: „Für viele ist die Entscheidung abgeschlossen“
Foto: SZ/Müller, Astrid

JUNG Nein. Wenn wir was nicht richtig treffen, ist die Betroffenheit groß, egal in welche Richtung das geht.

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