Freiheit ist nicht mehr das Einzige, was zählt

Berlin · Das subjektive Freiheitsgefühl der Deutschen nimmt zu. Einen Negativtrend vergangener Jahre kann das nicht stoppen: Viele Menschen haben das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können.

 Marius Müller-Westernhagen, hier 2008, traf einst mit dem Lied „Freiheit“ das Gefühl des geeinten Deutschlands. Foto: dpa

Marius Müller-Westernhagen, hier 2008, traf einst mit dem Lied „Freiheit“ das Gefühl des geeinten Deutschlands. Foto: dpa

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In Erlöser-Pose steht Marius Müller-Westernhagen da. Vor einem Meer aus Menschen. Alle recken die Arme in den Himmel, halten Feuerzeuge in den Händen. Und grölen gemeinsam mit dem Mann in der ärmellosen Lederweste vorne auf der Bühne die Zeilen: "Freiheit. Freiheit ist das Einzige, was zählt." Ein Gänsehaut-Moment. Nicht nur bei den Konzerten in der Wendezeit. Mit dem Lied trifft der Musiker das Lebensgefühl der geeinten Nation.

Heute scheinen die Bundesbürger eine widersprüchliche Haltung zur Freiheit entwickelt zu haben. Einerseits ist das subjektive Freiheitsgefühl so stark ausgeprägt wie selten zuvor. Andererseits glauben immer mehr Menschen, dass man mit politischen Meinungsäußerungen vorsichtig sein sollte. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt das Heidelberger John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung in seinem aktuellen "Freiheitsindex", dem eine repräsentative Allensbach-Umfrage zugrunde liegt.

Bei der Frage, ob Freiheit oder eine möglichst große Gleichheit wichtiger seien, liegen beide mit jeweils etwa 45 Prozent Zustimmung gleichauf. In den Jahren zwischen 2008 und 2015 hielten zum Teil noch deutlich mehr Bürger die Freiheit für wichtiger als die Gleichheit. Eine Erklärung für den Trend könnte sein, dass die Armuts- und Reichtums-Debatte in letzter Zeit sehr intensiv in Deutschland geführt wird.

Auch die Zahl der Anhänger von Verboten - etwa von ungesunden Lebensmitteln oder hohen Parteispenden - ist gegenüber 2015 um 1,5 Prozentpunkte auf 38,9 Prozent gestiegen. Gleichzeitig sagen 48 Prozent, sie fühlten sich sehr frei in Deutschland. In der langjährigen Betrachtung ist das ein Spitzenwert. Angesichts der Terroranschläge in Paris, Brüssel oder Nizza ließe sich vermuten, dass die meisten Menschen die westliche Kultur und den westlichen Lebensstil bedroht sehen. Tatsächlich sagt das aber nur rund jeder dritte Befragte (34 Prozent). Davon wiederum machen 40 Prozent die Flüchtlinge verantwortlich und 32 Prozent den Islam . 21 Prozent sehen den Terrorismus als Hauptursache. Diese Anteile sind insofern bemerkenswert, weil den Befragten hier keine Antworten vorgegeben waren. Zugleich geben nur noch 57 Prozent an, sie könnten ihre politische Meinung frei äußern. Vor 25 Jahren waren es noch fast 80 Prozent. Parallel dazu ist der Anteil derer, die das verneinen, seit 1990 um zwölf auf 28 Prozent gestiegen. Auch wenn diese Befunde "nicht bis ins Letzte logisch" seien, müsse man die Entwicklung ernst nehmen, sagt der Kommunikationswissenschaftler Thomas Petersen. Denn sie deute auf "ein zunehmend gespanntes Klima in der öffentlichen Diskussion hin." Schon frühere Umfragen hätten gezeigt, dass bei Einwanderung oder Islam "erhebliche Teile der Bevölkerung" den Eindruck hätten, dass man darüber nicht offen reden könne, wolle man sich "nicht den Mund verbrennen".

Was kennzeichnet eigentlich den westlichen Lebensstil? Auch hier gab es keine möglichen Antworten als Vorgaben. Umso erstaunlicher, dass für 31 Prozent die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau an vorderster Stelle rangiert. 27 beziehungsweise 21 Prozent sehen in der Meinungs- und Pressefreiheit beziehungsweise in den allgemeinen Freiheitsrechten das charakteristische Merkmal des westlichen Lebensstils. "Dass Gleichberechtigung und Pluralismus ganz oben stehen, ist ein außerordentlich erfreulicher Befund und gibt Anlass zum Optimismus", meint die Direktorin des Heidelberger Freiheitsforschungs-Instituts, Ulrike Ackermann.

Sollte es mit der Freiheit in Deutschland weiter bergab gehen, brauchen sich die Bürger zumindest keine neue Hymne zu suchen. Das Lied passt immer noch. Denn Westernhagen hat es nicht im Überschwung eines neuen Lebens in geeinter Freiheit geschrieben. Im Gegenteil. Das Stück sei im Jahr 1987 entstanden, wie er einmal in einem Interview erklärte: "Ich hatte mich damals mit der ewigen Existenz von zwei deutschen Staaten abgefunden."

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