Hauptumschlagplatz für Waren auf die Insel Calais droht das besondere Brexit-Chaos

Millionen Menschen setzen von der nordfranzösischen Hafenstadt aus über den Ärmelkanal. Der Austritt Großbritanniens aus der EU stellt die Stadt und ihre Umgebung vor große Herausforderungen.

Calais Maurice bekommt schlechte Laune – und je mehr er nachdenkt, desto tiefer werden die Falten auf seiner Stirn. „Kann es hier noch schlimmer werden?“ fragt der Besitzer des kleinen Schnellimbisses schon reichlich ungehalten und zeigt mit einer fahrigen Handbewegung die Rue Royale in Calais hinunter. Und tatsächlich: die Hauptstraße in Richtung Hafen bietet ein eher tristes Bild. Viele Geschäfte sind geschlossen, die Schaufenster mit Pappe verklebt. „A louer“ ist zu lesen, zu vermieten. „Hier in Calais kommt der Brexit nur zu den vielen Problemen hinzu, die wir sowieso schon haben“, sagt Maurice. In den letzten Jahren sind viele Arbeitsplätze in der Fischerei, Textilindustrie oder der Schifffahrt verloren gegangen. „Hier fehlen gute Jobs, die Region ist wenig attraktiv, immer mehr Leute ziehen in die großen Städte.“

Das sieht auch Nathalie Brunet so. Sie ist Vorsitzende des Einzelhandelsverbandes in Calais und glaubt nicht, dass der Brexit einen großen Einfluss auf das alltägliche Leben in der Hafenstadt haben wird. „Die Touristen aus Großbritannien werden weiter kommen“, ist sie sich sicher. Allerdings zieht es die Besucher schon lange nicht mehr in die Stadt, sondern in die gigantischen Shopping-Malls, die direkt am Eurotunnel gebaut worden sind und „Cité Europe“ oder „Channel Outlet Store“ heißen. Dort stranden die sogenannten „Booze Cruisers“, die billig Alkohol und Zigaretten kaufen wollen. „Diese Zentren sind das wirkliche Problem für das Leben in der Innenstadt“, sagt Nathalie Brunet, die ein kleines Bekleidungsgeschäft auf dem Boulevard La Fayette führt.

Auch die jungen Franzosen würden inzwischen dorthin pilgern und das „neue Einkaufserlebnis“ suchen. „Hier im Zentrum macht hingegen ein Laden nach dem anderen dicht“, klagt die Geschäftsfrau. Die Idee, in Calais eine große Duty-Free-Zone einzurichten, um nach dem Brexit britische Touristen anzulocken, hält sie für „ganz nett“. „Davon könnten sicher einige Geschäftsleute profitieren“, glaubt sie, der wirklich große Wurf sei das aber sicher nicht.

„Bevor solche Pläne gemacht werden, sollte zuerst einmal versucht werden, an der Grenze den Normalbetrieb nach dem Brexit zu meistern“, sagt Nathalie Brunet. Sie glaubt, dass „wir da geradewegs ins Chaos steuern“. Von der Verschiebung des Brexit erhofft sie sich nichts. „Kommt das Durcheinander nicht heute, kommt es eben morgen.“ Jeder wisse, dass viel zu wenige Grenzbeamte am Hafen und am Bahnhof arbeiten würden. Logistikunternehmer warnen schon seit Wochen vor einem Horrorszenario, da es bei einem harten Brexit zu umfassenden Kontrollen kommen müsste. Endlose Staus wären die Folge, da in Calais jeden Tag viele Tausend Lkw abgefertigt werden müssen.

Immer wieder hatten vor allem die Gewerkschaften in Frankreich auf dieses Problem hingewiesen, alle Warnungen seien aber in den Wind geschlagen worden. In diesen Tagen griffen die Zöllner in Calais schließlich zu einer drastischen Maßnahme: Sie begannen einen Bummelstreik. David-Olivier Caron, Generalsekretär bei der Gewerkschaft CFDT, erklärt dazu: „Es ist klar, dass mit dem Brexit neue Aufgaben kommen. Jeder wird Zollerklärungen abgeben müssen: Betreiber, Händler, Einzelpersonen. Also werden wir mit dem Brexit noch mehr zu tun haben.“

Inzwischen verhandeln die Zöllner mit der französischen Regierung über weitere Einstellungen zu den bereits angekündigten 700 neuen Posten, neues Material und mehr Geld. Zur Diskussion steht ein Paket mit einem Umfang in Höhe von 14 Millionen Euro.

Der Fahrer eines Lastwagens, der kurz vor Calais seit Stunden im Stau steht, ist nicht nur durch die Warterei genervt. „Während wir hier stehen, versuchen immer wieder Flüchtlinge auf unsere Fahrzeuge zu klettern“, sagt er. Die haben sich in den Wäldern am Stadtrand von Calais versteckt und warten auf ihre Chance, sich unter den Planen der Lkw zu verstecken und durch den Tunnel auf die andere Seite des Kanals nach Großbritannien zu kommen. Für die Migranten bedeuten die Verzögerungen eine weitere Chance, ihren gefährlichen Weg erfolgreich fortzusetzen.

Inzwischen werden neben Hunden bei der Lkw-Kontrolle in Calais modernste Sensoren eingesetzt, die Herzschläge von Menschen wahrnehmen oder auch die CO2-Konzentration in einem Raum messen. Dennoch schaffen es immer wieder Flüchtlinge auf die Fahrzeuge. Vor einigen Tagen wurde ein 20-jähriger Mann aus Äthiopien tot entdeckt. Er hatte sich zwischen die schweren Paletten auf einer Ladefläche gezwängt und war erdrückt worden.

„Das sind verdammt arme Jungs“, sagt der Lkw-Fahrer, „aber wenn einer von denen auf meinem Lastwagen entdeckt wird, bekomme ich verteufelten Ärger und davon habe ich schon mehr als genug.“ Der Mann hat Auspuffanlagen geladen, die er nach Großbritannien transportieren muss, wo sie in Neuwagen verbaut werden. Die britischen Automobilhersteller bringen jedes Jahr rund eine Million Fahrzeuge auf den europäischen Markt und in den modernen Produktionsketten sind keine langen Lagerzeiten mehr vorgesehen. Entsprechend groß ist der Zeitdruck bei den Transportunternehmen. Das vernichtende Urteil des Chauffeurs, der vor Calais mit zunehmender Ungeduld auf seine Abfertigung wartet: „Das kann nicht funktionieren.“

Diesen Eindruck scheinen manche Entscheidungsträger auch in Brüssel zu haben. Dort wurde schon vor einigen Monaten ein Plan öffentlich, den Flaschenhals Calais zu umgehen und neue Schiffsrouten vom EU-Mitglied Irland nach Zeebrugge in Belgien oder Amsterdam in den Niederlanden einzurichten – ohne den bisher üblichen Weg über Großbritannien. Xavier Bertrand ist angesichts solcher Gedankenspiele empört. Der Präsident des Regionalrats von Hauts-de-France – jene Region, zu der auch Calais gehört – bezeichnet solche Pläne als „skandalös“ und ist überzeugt, dass Frankreich das nie akzeptieren wird. Der Politiker fordert von allen Seiten mehr Zusammenarbeit und stellt in seinen Augen eine verständliche, in der aktuellen Situation aber anachronistische Forderung. Denn mehr Zusammenarbeit ist genau das Gegenteil dessen, was mit dem Brexit erreicht werden soll.

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