Feier-Stimmung bei den „guten Patrioten“

Kairo · Für die meisten Ägypter ist das Verfassungs-Referendum, das gestern begann und heute endet, ein Votum über wenige Grundsatzfragen: Die Muslimbrüder sollen weg, und General Al-Sisi soll Präsident werden. Für viele war der Tag ein Grund zur Freude, doch Gewaltakte mit neun Toten trübten den Urnengang.

Die Abstimmung über die 247 Artikel der neuen Verfassung ist in Ägypten keine staubtrockene Angelegenheit. Vor der Schahid-Abdel-Hafis-Schule, einem der Wahllokale im Kairoer Stadtteil Sajjida Seinab, plärren aus den Lautsprechern nationalistische Lieder. Eine Gruppe von Wählern singt: "Nieder mit der Bruderschaft, es lebe Al-Sisi!" In den umgebenden Straßen sind nur Plakate mit der Aufschrift "Ja zur Verfassung" zu sehen. Ein "Nein" ist auf den Stimmzetteln zwar vorgesehen, aber keiner der befragten Wähler gibt an, dort sein Kreuz gesetzt zu haben.

Das zweitägige Referendum ist der erste entscheidende Schritt nach dem von Ägyptens Übergangsführung festgelegten Fahrplan zu einem neuen politischen System. Doch dass es die tiefe Spaltung des Landes überwinden kann, ist höchst unwahrscheinlich. Denn diesmal bleibt die Muslimbruderschaft ausgeschlossen. Keiner ihrer Vertreter saß in dem von Laizisten dominierten Verfassungskomitee, in dem die einstigen Verbündeten der "Brüder", die radikalere salafistische "Nour-Partei", mit einem Sitz als einzige die islamistische Strömung Ägyptens repräsentierte.

Der Widerstand islamistischer Kräfte gegen das neue Grundgesetz forderte bereits mehrere Menschenleben. Und auch gestern wurden bei Zusammenstößen zwischen Islamisten und Sicherheitskräften neun Menschen getötet, davon vier im oberägyptischen Sohag und drei im Westen Kairos.

Ägyptens politische Szene ist indes nicht mehr zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten gespalten. Die Polarisierung ist weit komplizierter geworden. Einerseits hat die einflussreiche "Nour-Partei" ihre Allianz mit den Muslimbrüdern aufgekündigt und engagiert sich voll für den neuen Verfassungsentwurf. Anderseits sind auch die säkularen Strömungen tief gespalten. Die Tamarod-Bewegung, die durch Massenproteste im Vorjahr Präsident Mohammed Mursi zu Fall gebracht hatte, steht ebenso wie die liberale "Nationale Rettungsfront" voll hinter dem Verfassungsprojekt. Doch in diesen Strömungen gibt es auch Vorbehalte. So unterstützt etwa Friedensnobelpreisträger Mohammed El-Baradei den "Fahrplan", bezieht aber keine Position zum Verfassungsentwurf, während linke Gruppen bemängeln, dass die Rechte der Arbeiter unberücksichtigt bleiben. Demokratie-Aktivisten kritisierten, dass der Text - trotz der Verbriefung zusätzlicher Rechte etwa von Frauen und Behinderten - den Staat und seine Gewaltorgane auf Kosten des Bürgers stärke.

Nichtsdestotrotz hat das Verfassungs-Referendum gestern in Kairo fast in einer Art Party-Stimmung begonnen. Die Medien hatten mächtig die Trommel gerührt für das "Ja" zum neuen Grundgesetz und für eine möglichst große Beteiligung der "guten Patrioten". Die meisten Ägypter, die in die Wahllokale kommen, beschäftigen sich nicht mit demokratiepolitisch relevanten Feinheiten. Für sie ist das Referendum ein Votum über wenige Grundsatzfragen. So erklärte etwa die Lehrerin Fatima Saghlul in einem Wahllokal im Kairoer Viertel Garden City: "Wir sind hier wegen Ägypten. Diese Verfassung wird uns von den finsteren Tagen der Herrschaft der Muslimbrüder befreien." In der Schule in Sajjida Seinab schaut indes George Ishak vorbei. Er ist einer der Mitbegründer der Kifaja-Bewegung gegen den 2011 vom Volk gestürzten Langzeitpräsidenten Husni Mubarak und damit ein Veteran der Pro-Demokratie-Bewegung. Heute ist er Wahlbeobachter. Mit der gegenwärtigen indirekten Militärherrschaft hat er sich arrangiert. Immerhin verurteilt er die jüngsten Verhaftungen von Aktivisten einer gemäßigt-islamischen Partei, die Wahlwerbung gegen die Verfassung gemacht hatten. "Sie haben ein Recht, dagegen zu sein", meint Ishak. "Wenn wir alle mit ,Ja' stimmen, wozu brauchen wir dann ein Referendum?"

So sieht es auch ein Mann, der offenbar nicht gewählt hat. "Nein zu dieser Verfassung des Blutes", flüstert er Journalisten hinter vorgehaltener Hand zu. Der diskrete Sympathisant der Muslimbrüder spielt auf deren Unterdrückung nach dem Umsturz im vergan genen Juli an.

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