Europas Wutbürger sind nicht zu stoppen

Brüssel · Immer häufiger schlägt den europäischen Institutionen eine Welle der Empörung entgegen, wenn neue Richtlinien oder Verordnungen geplant werden. Die Gesetzgebung wird nicht länger als unantastbar hingenommen.

Michel Barnier war das erste Opfer. Wochenlang musste sich der französische EU-Kommissar anhören, dass er mit seiner geplanten Richtlinie die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung betreiben, ja sogar erzwingen wolle. Klarstellungen halfen nichts. Am Ende räumte er ein: "Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Bürgerinnen und Bürger aufgebracht und besorgt sind, weil ihnen erzählt wird, dass ihre Wasserversorgung gegen ihren Willen privatisiert werden könnte. Ich selbst würde in einem solchen Fall genauso reagieren." Im Juni sortierte Barnier das Thema Wasser aus der umstrittenen Konzessionsrichtlinie wieder aus.

Europas Wutbürger mucken auf. Ob Glühbirne, Ölkännchen oder Duschköpfe - die EU-Gesetzgebung wird nicht länger als unantastbar hingenommen. Manche machen das privat - wie SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der erst vor wenigen Tagen zugab, mehrere hundert spezielle französische Glühbirnen in seinem Keller gebunkert zu haben, "weil ich nicht weiß, ob ich die in fünf Jahren noch für meine französische Lampe bekomme". Andere nutzen ein Instrument, dass ihnen die EU selbst an die Hand gegeben hat: die Europäische Bürgerinitiative. 1,5 Millionen Unterschriften sammelte die Aktion "Wasser ist ein Menschenrecht" und wurde damit zur ersten organisierten Kampagne, die die Kommission in die Knie zwang.

Dabei gab es Umfaller auch schon vorher. Im Mai musste Agrarkommissar Dacian Ciolos seinen Vorstoß gegen offene Oliven-Ölkännchen auf Restaurant-Tischen wieder einkassieren. Gerade noch rechtzeitig hatte Kommissionspräsident José Manuel Barroso gemerkt, dass sich das Thema hochschaukeln könnte und am Ende "schlimmer als die Glühbirnen" werden könnte, wie es ein hoher Kommissionsbeamter formulierte.

Die Stürme der Entrüstung schlagen in immer kürzeren Abständen in Brüssel ein. Über die legendär gewordene Vorschrift über den Krümmungsgrad von Bananen lachte noch die halbe Welt (die Verordnung wurde vor einigen Jahren ebenfalls wieder zurückgenommen). Heute werde dagegen ernsthaft diskutiert, heißt es.

Der Protest habe sich verändert, räumen erfahrene EU-Diplomaten ein und verweisen auf das Beispiel der Wutbürger gegen das Stuttgart-21-Projekt. "Die Menschen wollen mitreden und nicht nur hinnehmen", sagt ein hoher Brüsseler Diplomat. "Sie lehnen die Diktatur eines nicht demokratisch bestimmten Gesetzgebers ab. Aber sie gehen auch manchen Interessensgruppen auf den Leim." Tatsächlich haben viele Wutbürger vor lauter Freude über den Erfolg an der europäischen Wasserfront übersehen, dass der zuständige Kommissar den "Kampagneros" noch einmal vorhielt: "Die Gerüchte über eine Privatisierung der Wasserversorgung stimmten nie."

Das war auch bei der Schlacht um die Neuregelung des Saatgutes der Fall, der im April dieses Jahres sogar bis ins Berliner Bundeslandwirtschaftsministerium Wellen schlug. Die Autoren eines dürftig recherchiertes Beitrags im Internet hatten behauptet, die Kommission wolle selbst den Tausch von alten und seltenen Pflanzensorten "unter Strafe stellen", weil diese nicht angemeldet worden seien. Die entsprechende Vorlage enthielt jedoch schon im Entwurfsstadium einen Hinweis darauf, dass die Neuregelungen lediglich für "professionelle" Gartenbaubetriebe gelten würden, die kommerziell anbauen oder züchten. Trotzdem brach eine Welle über Brüssel herein, die immerhin eine nochmalige Klarstellung brachte. In der Substanz nichts Neues, aber ansprechender formuliert.

Ob es um Salz im deutschen Brot oder Duschköpfe mit verringertem Wasserdurchlauf geht - "Man traut der EU inzwischen jeden Blödsinn zu", heißt es auf den Fluren des Europäischen Parlamentes, "und fällt dann mit Protesten, die sich via Internet in Minutenschnelle multiplizieren", über alle EU-Stellen her. "Der Wahrheitsgehalt wird kaum noch geprüft", bedauert ein Mitarbeiter ausgerechnet jener Abteilung der Kommission, die für die Europäische Bürgerinitiative verantwortlich ist. Die Frage, ob vielleicht auch zunehmend schlampiger gearbeitet werde, lässt man nicht gelten. Immerhin würden Gesetzesvorschläge von zig Fachleuten in unterschiedlichen Generaldirektionen gegengelesen.

Schließlich soll ein Desaster, wie man es mit der Richtlinie zum Strahlenschutz vor einigen Jahren erlebt hatte, nicht noch einmal passieren. Da hatten EU-Beamte nämlich sehr vernünftige Vorschriften zum Schutz an Arbeitsplätzen mit Laser- oder Röntgenbelastung auf die natürliche Strahlung ausgeweitet und am Ende die Arbeitgeber verpflichten wollen, Bauarbeitern im Sommer T-Shirts und auf den Hauttyp abgestimmte Pausen zuzubilligen. Das Werk scheiterte im Entwurfsstadium.

Dennoch sind Europas Wutbürger offenbar nicht mehr zu stoppen. Bei den einschlägigen Redaktionen offizieller EU-Webseiten stellt man ein deutlich höheres Interesse fest. Abgeordnete berichten aus ihren Wahlkreisen, dass sie "häufiger, intensiver und sehr viel sachkundiger als früher" von ihren Wählerinnen und Wählern "gelöchert" werden. "Die Leute wollen wissen, warum wir etwas machen und wie sie darauf Einfluss nehmen können", erzählt ein deutscher Parlamentarier aus seinem Alltag im heimischen Wahlkreis. "Und sie wollen sagen, wenn ihnen etwas nicht passt."

Schon sprechen Wissenschaftler von "Europas Wutbürgern als Vorboten einer neuen politischen Generation, die mitmischen will". Ein hochrangiges Kommissionsmitglied drückt seine Erfahrungen folgendermaßen aus: "Ich kann praktisch nichts mehr sagen, ohne dass ich von Bürgern zu Rechenschaft gezogen werde. Aber das finde ich richtig gut."

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