Europa wird zur Zwei-Klassen-Gesellschaft

Brüssel. Als es am Mittwochabend beim Euro-Gipfel ernst wurde, mussten sie gehen: Donald Tusk, polnischer Regierungschef und immerhin Ratsvorsitzender der EU, Fredrick Reinfeldt, Ministerpräsident aus Schweden, und sein britischer Kollege, David Cameron. Allesamt Schwergewichte der Gemeinschaft

Brüssel. Als es am Mittwochabend beim Euro-Gipfel ernst wurde, mussten sie gehen: Donald Tusk, polnischer Regierungschef und immerhin Ratsvorsitzender der EU, Fredrick Reinfeldt, Ministerpräsident aus Schweden, und sein britischer Kollege, David Cameron. Allesamt Schwergewichte der Gemeinschaft. Aber als die wichtigen Entscheidungen zu fällen waren, mussten sie und sieben andere Staats- und Regierungschefs den Saal verlassen.Die Szene wirkte symbolisch für den Zustand der Union, die auf dem besten Weg in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ist: "Es droht eine Konfrontation", warnte der ehemalige Londoner Regierungschef John Major jetzt in einem Beitrag. "Wenn die Euro-Zone enger zusammenrückt, werden die Nicht-Euro-Länder sich auch stärker koordinieren."

Tatsächlich spielen vergleichsweise kleine Staaten wie Luxemburg und die Slowakei inzwischen eine deutlich größere Rolle als Großbritannien oder Polen. Während die Euro-Gegner in entscheidenden Fragen nichts mehr zu sagen haben, stimmen sich die Vertreter der Währungsunion politisch ab, veranstalten demnächst regelmäßig eigene Gipfeltreffen, bekommen ein eigenes Sekretariat in Brüssel und an der Spitze einen Kommissar, namens Olli Rehn. "Euro-Zonen-Präsident" wird er bereits bezeichnet. "Durch die organisatorischen Entscheidungen entstehen Fragen für uns", sagte der polnische Botschafter in Deutschland, Andrzej Byrt. "Wir wollen keine Autonomisierung der Euro-Zone in Feldern, die alle angehen."

Das sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel genauso: "Das will ich nicht, das ist nicht vernünftig", erklärte sie in ihrer nächtlichen Pressekonferenz nach dem Doppel-Gipfel. So ganz unrecht dürfte ihr die Entwicklung allerdings nicht sein. Schließlich gewinnt Deutschland zunehmend an Gewicht und Einfluss. Im Kreis der 17 fällt Großbritannien als ewiger Nörgler und Bremser weg. Die beiden "Großmächte" Italien und Spanien sitzen auf der Sünderbank - und sind aktuell durch Ministerpräsidenten auf Abruf geschwächt.

Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der nun auch noch einen Umbau seines Landes nach dem Vorbild der Bundesrepublik ins Auge gefasst hat, können ungehindert schalten und walten. Und sie wissen die EU-Spitze hinter sich. Selbst José Manuel Barroso, als Kommissionspräsident allen 27 Mitgliedstaaten verantwortlich, stellte erst vor wenigen Tagen fest, dass man selbstverständlich "Respekt vor der Entscheidung jedes einzelnen Landes" haben müsse. "Allerdings muss jedes einzelne Land auch respektieren, wenn die Mehrheit schneller vorankommen will."

Offiziell haben die 17 Euro-Freunde alle anderen eingeladen, sich an der ökonomischen Abstimmung inklusive der Haushaltskontrolle und einer wie auch immer gearteten Wirtschaftsregierung zu beteiligen. Sogar einen Namen gibt es bereits für das Gebilde: "17+". Vor allem jene Nicht-Euro-Staaten, die demnächst die Gemeinschaftswährung einführen wollen, zeigten sich interessiert. Allen voran Polen. Das Gefälle, so befürchtet man in Brüssel, könnte sich sogar noch verschärfen, wenn es dem Chef des Rettungsschirms, Klaus Regling, gelingen sollte, kapitalkräftige ausländische Investoren zu bewegen, Geld in Europa zu investieren. Seit Freitag verhandelt der deutsche Finanzmanager darüber in China. Solche Finanzspritzen könnten zwar alle Europäer gut gebrauchen, sie kämen aber lediglich der Währungsunion zugute. "Wenn wir nicht aufpassen", sagte am Freitag ein hoher Mitarbeiter der Kommission, "gibt es da noch viel böses Blut."

Meinung

Eine Lektion für die Bremser

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Aus der Krise entsteht ein neues Europa. Es ist geteilt zwischen Euro-Freunden und Euro-Gegnern. Mit jedem Schritt, den die Währungsunion richtigerweise tut, um Lehren aus den Sünden der Vergangenheit zu ziehen, haben die EU-Staaten, die an ihrem eigenen Geld festhalten, das Nachsehen. Beispiel Großbritannien: Über Jahre hinweg konnten die Premiers von der Insel ihre zu Einstimmigkeit verdonnerten Freunde ausbremsen, lenken und blockieren. Nun musste Regierungschef David Cameron feststellen, dass seine Wirtschaft auf Gedeih und Verderb auf die Euro-Zone angewiesen ist, er aber nichts mehr zu entscheiden und zu sagen hat. Aus der "Asche" der Schuldenkrise wächst nämlich gerade eine Union in der Union heran. Das einstige Schreckgespenst eines "Europa der zwei Geschwindigkeiten" ist salonfähig geworden. Die Bremser bekommen eine Lektion erteilt. Zwar will sie niemand ausschließen. Aber der Respekt, den sie erwarten, müssen sie auch anderen entgegenbringen. Auch denen (der Mehrheit?), die mehr Europa wollen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Neue SachbücherUnsere Literaturseite bringt heute: eine fabelhafte Kulturgeschichte des Mondes; einen neuen Meilenstein Heinrich August Winklers in seiner "Geschichte des Westens"; eine glänzende Biografie über Matthias Claudius und eine Neuauswahl aus Pa
Neue SachbücherUnsere Literaturseite bringt heute: eine fabelhafte Kulturgeschichte des Mondes; einen neuen Meilenstein Heinrich August Winklers in seiner "Geschichte des Westens"; eine glänzende Biografie über Matthias Claudius und eine Neuauswahl aus Pa