Flüchtlinge im Mittelmeer Europa schaut weg, das Elend geht weiter

Rom/Tunis · Gelindert ist die Flüchtlingsnot im Mittelmeer nicht, sagen Experten. Die Politik setzt auf Abschottung, die Retter resignieren.

(dpa) Etwa 130 Migranten sitzen in einem Gummiboot. Es sind wie immer Schwangere darunter, Kinder und Babys. Sie wollen weg, endlich Folter, Vergewaltigungen, Hunger und Hoffnungslosigkeit in Libyen hinter sich lassen. Ein europäisches Rettungsschiff nähert sich. Und auch die libysche Küstenwache. Mann für Mann, Frau für Frau, Kind für Kind wird verhandelt: Wer darf in Richtung Europa, wer muss wieder zurück in die libysche Hölle? Am Ende fährt das Schiff „Aquarius“ der deutsch-italienisch-französischen Organisation SOS Mediterranee mit 39 Frauen und Kindern Richtung Europa, der Rest hat es nicht geschafft.

Familien werden zerrissen. Ein „Horrorszenario“ für die Migranten an Bord und für die Retter, sagt SOS-Sprecherin Jana Ciernioch, als sie von dem Vorfall berichtet. Solche Szenen wiederholen sich in letzter Zeit auf dem Meer zwischen Nordafrika und Europa. Wie am Wochenende, als mehr als 250 Menschen nach Libyen zurückgebracht wurden und rund 900 unter dem Kommando der italienischen Küstenwache gerettet wurden. Europäische Rettungsschiffe geraten mit der libyschen Küstenwache immer öfter aneinander. Oft ist unklar, wer die Migranten übernimmt. Rettungseinsätze werden verzögert und somit Menschenleben gefährdet, beklagen Experten.

„Italien zieht sich immer mehr aus der Koordination der Rettungen auf dem Mittelmeer zurück“, sagt Ciernioch. Ziel sei es, die Einsätze bis 2020 komplett den Libyern zu überlassen. Also einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt und in dem die staatlichen Strukturen zerfallen sind. Ausgerüstet und trainiert von der EU, soll die libysche Küstenwache Migranten von der Überfahrt abhalten. Amnesty International warf Teilen der libyschen Küstenwache vor, mit Menschenschmugglern zu kooperieren. Ein Menschenleben zählt kaum etwas in dem Land, wo Migranten in Lagern unterkommen, in denen nach Angaben des UN-Menschenrechtskommissars „Folter und schlechte Behandlung systematisch“ sind.

Der humanitäre Ansatz, den die italienische Regierung von 2013 an bei der Seenotrettung von Migranten hatte, sei am Ende, erklärt Paolo Cuttitta vom Amsterdam Centre for Migration and Refugee Law. Hilfsorganisationen seien von Partnern zu Gegnern geworden, und die libyschen Behörden führten für Italien das Abdrängen von Flüchtlingen aus. Zeitweise waren nur noch zwei zivile Schiffe im Mittelmeer zur Rettung unterwegs: Die „Aquarius“ und die „Seefuchs“ der Regensburger Initiative Sea-Eye. Es waren einmal mehr als zehn.

Einige Seenotretter haben sich ganz zurückgezogen – weil im Klima der Fremdenfeindlichkeit Spendengelder schrumpfen oder weil sie den „Verhaltenskodex“ für Hilfsorganisationen der italienischen Regierung nicht unterzeichnet haben. Oder ihre Schiffe wurden beschlagnahmt. Nicht nur das der deutschen Organisation Jugend Rettet, über dessen Schicksal das oberste Gericht Italiens am Montag diskutierte. Gestern die Entscheidung. Das Schiff „Iuventa“ bleibt beschlagnahmt. Auch das spanische Schiff „Open Arms“ wurde zeitweise festgesetzt, dem Kapitän und der Einsatzleiterin wird Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen. Zwar hat ein Ermittlungsrichter das spanische Schiff wieder freigegeben. Und das mit der spektakulären Begründung, dass es vor dem Hintergrund der Zustände in Libyen unmenschlich sei, Menschen dorthin zurück zu transportieren.

Doch an der italienischen und europäischen Migrationspolitik wird das wenig ändern. Denn deren Priorität bleibt es, die Migranten um jeden Preis fernzuhalten – auch weil den Regierenden immer größere Wellen des Fremdenhasses im eigenen Land entgegenschlagen. Durch das umstrittene Abkommen mit den Libyern kamen im vergangenen Jahr ein Drittel weniger Migranten an den Küsten Italiens an als im Vorjahr. In diesem Jahr waren es bisher rund 18 500 statt knapp 46 000. Allerdings starben bei der Überfahrt mehr als 550 Migranten. Und jetzt, wo das Wetter besser wird, erwarten die Retter wieder mehr Überfahrten. Auch hat sich die Zahl der Flüchtlinge erhöht, die über Marokko und Spanien versuchen, nach Europa zu gelangen. Hunderte Flüchtlinge sterben auf ihrem Weg durch die Wüste.

Kann man also von Erfolg sprechen? „Es ist (für die italienische Regierung und Europa) insofern ein Erfolg, dass die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen nicht mehr unsere TV-Kameras erreichen“, sagt Maurizio Ambrosini, Dozent für Migrationspolitik an der Universität Mailand. Gelöst ist das Problem nicht, es verlagert sich nur – und wird schlimmer.

Kürzlich brach ein Flüchtling aus Libyen bei der Ankunft in Sizilien zusammen. Er war verhungert. Der Bürgermeister der Stadt Pozzallo, Roberto Ammatuna, fand damals nur folgende Worte: „Sie waren alle nur Haut und Knochen, als würden sie aus einem Konzentrationslager der Nazis kommen.“

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