„Europa ist wie ein aus vielen Schnüren gedrehtes Seil“

Straßburg · Europa ist nicht in „Top-Form“, sagt EU-Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union. Mit ein wenig Pathos beschwört er den Zusammenhalt im Staatenbund – und erklärt, was besser werden muss.

Jean-Claude Juncker weiß, dass von ihm nicht weniger erwartet wird als die Rede seines Lebens. Er ist der Präsident der Europäischen Kommission, der wichtigsten EU-Institution. Er muss die durch Brexit, Terror und Flüchtlingsprobleme entmutigte Gemeinschaft wachrütteln. Das braucht Pathos, eine Vision, aber auch konkrete Vorschläge. "Die EU ist in keiner guten Verfassung", hatte er vor einem Jahr an gleicher Stelle gesagt.

An diesem Mittwoch formuliert er es im Europäischen Parlament in Straßburg anders: "Die EU ist nicht in Top-Form." Mehr noch: "Sie durchlebt eine existenzielle Krise." Aber "sie ist nicht in ihrem Bestand gefährdet". Die Mitgliedstaaten sprächen zu oft nur von ihren eigenen nationalen Interessen. "Die Zahl der Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein." Juncker sagt: "Europa ist wie ein aus vielen Schnüren gedrehtes Seil - es funktioniert nur, wenn alle am selben Strang und in die gleiche Richtung ziehen: die EU-Organe, die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente."

Es ist der Rüffel, der notwendig war. Morgen kommen in Bratislava die 27 Staats- und Regierungschefs der Union zusammen - zum ersten Mal ohne Großbritannien. Auch dort geht es um die Union, um ein Signal, eine Blaupause, mit der man zeigen will, dass Europa nicht zerfällt, sondern handlungsfähig ist. Juncker wird dabei sein und einen Katalog von Maßnahmen präsentieren, den er im Europäischen Parlament bereits umreißt. Mehr als 600 Milliarden Euro an Investitionen bis 2020, ein gemeinsamer Grenzschutz, dessen Einsatz schon im Oktober an den Schlagbäumen Bulgariens beginnen soll, freies WLAN an öffentlichen Plätzen bis 2020 und - natürlich - Wegfall der Roaming-Gebühren ab Juli 2017 ("für alle, die im Ausland arbeiten"): Junker lässt keinen Bereich aus, mit dem er die Bürger für das Projekt Europa gewinnen könnte. "Wir wollen keine Drohnen, die über unseren Köpfen kreisen und jede Bewegung aufzeichnen oder Unternehmen, die alle unsere Mausklicks speichern."

Die EU erreicht etwas - das ist die Botschaft. Sie bewirkt etwas: "Wir haben bereits 37 Anti-Dumping- und Anti-Subventionsmaßnahmen in Kraft gesetzt, um unsere Stahlindustrie vor unfairem Wettbewerb zu schützen." Das ist keine Charme-Offensive des luxemburgischen Kommissionschefs. Juncker zählt Erfolge auf und will Erfolge vermelden. Er habe jeden seiner Kommissare aufgefordert, "in den nächsten beiden Wochen in den nationalen Parlamenten der Länder, die sie am besten kennen, über die Lage der Union zu diskutieren." Und er nimmt sich sogar die Staats- und Regierungschefs zur Brust: "Ich rufe jeden einzelnen der 27, die den Weg nach Bratislava antreten, auf, sich drei Gründe zu überlegen, warum wir die Europäische Union brauchen."

Das könnte manchen ins Grübeln bringen. Die EU hat in den zurückliegenden Monaten zu viele Nackenschläge einstecken müssen. Jetzt will man zurück in die Spur - über Erfolge, die bei den Menschen ankommen. Manfred Weber (CSU ), der Chef der christdemokratischen EVP-Mehrheitsfraktion, zitiert an diesem Tag ausführlich Gespräche mit Jugendlichen, die in diesen Sommerwochen quer durch Europa reisten, und regt sogar an, "allen jungen Menschen ab 18 einen Interrail-Pass (kostet derzeit ab 200 Euro für 30 Länder, d. Red.) für grenzenloses Reisen mit der Bahn zu schenken."

Von den EU-Skeptikern abgesehen, findet Junckers Auftritt viel Beifall. Aber der reicht nicht, wenn sich die Gemeinschaft im Arbeitsalltag ihrer Institutionen und in der Konfrontation mit den Mitgliedstaaten zerreibt. "In Brüssel laut Ja sagen und später so tun, als wäre man nicht dabei gewesen, ist das Gegenteil von nachvollziehbarer Kohärenz", meint Juncker. Man könnte das auch als inständige Bitte an die Runde der Staats- und Regierungschefs verstehen, sich endlich über das zu verständigen, was man lösen kann, anstatt sich über das zu streiten, was zwischen den Ländern steht.

Ob die Versöhnungsbotschaft bereits morgen in Bratislava auf dem harten Boden der Realitäten landet, ist nicht absehbar. Obwohl der Kommissionspräsident den zerstrittenen Staats- und Regierungschefs noch einen Rat mitgegeben hat: "Die Geschichte wird sich nicht an uns erinnern, sondern an die Fehler, die wir gemacht haben."

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