Europa, der Kontinent der Rentner "Die Versorgung der Bedürftigen wird immer weniger finanzierbar"

Brüssel. Deutschlands Regionen bluten aus. Kein Land der EU leidet innerhalb der nächsten 20 Jahre so massiv unter Landflucht und den Folgen der Alterung wie die Bundesrepublik. Dies sind die alarmierenden Ergebnisse einer Studie des Europäischen Statistikamtes Eurostat. 281 Regionen in den 27 Mitgliedstaaten wurden untersucht

Brüssel. Deutschlands Regionen bluten aus. Kein Land der EU leidet innerhalb der nächsten 20 Jahre so massiv unter Landflucht und den Folgen der Alterung wie die Bundesrepublik. Dies sind die alarmierenden Ergebnisse einer Studie des Europäischen Statistikamtes Eurostat. 281 Regionen in den 27 Mitgliedstaaten wurden untersucht. Teilweise sind dramatischen Verschiebungen bei der Bevölkerung zu erwarten. So wird etwa das Saarland, in dem heute 22,1 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre ist, 2030 über einen Anteil an Ruheständlern von 31,6 Prozent verfügen. Der Region Rheinhessen-Pfalz (derzeit 20,0, ab 2030 27,3 Prozent) ergeht es nicht besser. Auch Trier (19,8/22,2) ist betroffen. Die "älteste" Stadt der EU wird Chemnitz sein. Dort leben derzeit 25,9 Prozent über 65-Jährige, bis 2030 steigt ihr Anteil auf 37,3 Prozent.

Entsprechend dramatisch verändert sich auch der sogenannte Altenquotient, also das Verhältnis der Menschen, die mit über 65 Jahren nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind, zu den erwerbsfähigen 15- bis 64-Jährigen (siehe Grafik). Für das Saarland prognostiziert Eurostat eine Erhöhung des Altenquotienten von aktuell 33,6 auf 55,1 Prozent im Jahr 2030.

Parallel dazu entstehen in Europa wachsende Großstädte, die immer jünger werden. London (10,8 Prozent ältere Einwohner in 20 Jahren) Brüssel (17,1) oder Hamburg (25,9) werden zu Oasen der nächsten Generation. Die aber hat gewaltige Lasten zu tragen. So müssen in zwei Jahrzehnten 100 Arbeitnehmer in Chemnitz für 70,2 Pensionäre aufkommen, in London werden 100 Beschäftigte dagegen nur die Sicherung für 14,8 Rentner aufzubringen haben. Unter den 27 EU-Staaten wird Deutschland mit 46,2 Prozent das von der Altersverschiebung am meisten betroffene Land sein.

Einen kleinen Lichtblick gibt es aber doch. Denn die europäische Gesamtbevölkerung wächst wieder. Zum Jahreswechsel lebten 501,26 Millionen Einwohner in der EU, ein Jahr zuvor waren es noch 499,7 Millionen Einwohner. Vor allem in Frankreich, Großbritannien, Irland und Spanien zeigt der Trend aufwärts, während die Bundesrepublik weiter auf dem absteigenden Ast ist.

Die EU-Kommission sieht dringenden Handlungsbedarf, weil vor allem die ohnehin schwächer werdenden Regionen zu leiden haben, während die finanzstarken Großstädte von der wachsenden Anziehungskraft auf junge Einwohner profitieren. So sollen in der kommenden Legislaturperiode der EU bei der Vergabe der Fördermittel für regionale Entwicklung die demografischen Vorhersagen als zusätzliches Kriterium einfließen. Das würde eine weitere Verschiebung der Gelder nach Osten bedeuten. Denn dort werde der Trend besonders spürbar sein, heißt es. So sehen die Experten von Eurostat die Gefahr einer regelrechten "Entvölkerung" weiter Landstriche. In Ostdeutschland, Bulgarien und Teilen Ungarns gehe die Einwohnerzahl um mehr als ein Fünftel zurück, während Irland (plus 19 Prozent), Großbritannien (plus 37 Prozent) und Belgien (plus elf Prozent) immer stärker werden. Der Grund: Im Unterschied vor allem zu Deutschland (bis 2030 minus 28 Prozent) haben diese Staaten ihre Grenzen für Zuwanderer bereits weit geöffnet. Wie zuverlässig ist eine Bevölkerungs-Studie, die einen Zeitraum von 20 Jahren umspannt?

Birg: Geburten- und Sterbefälle lassen sich relativ zuverlässlich vorausberechnen. Mindestens so wichtig sind jedoch Wanderungsbewegungen. Die sind ein Unsicherheitsfaktor. Beeinflusst Migration auch Prognosen für regionale Einheiten wie das Saarland?

Birg: Je kleinräumiger eine Bevölkerungsprognose, desto größer ist der Einfluss der Wanderungen gegenüber den Geburten und desto unsicherer ist sie. Für das Saarland mag eine Prognose bis 2030 ohne große Fehler machbar sein, für einzelne Städte sind die Fehler größer.

Die Studie prognostiziert unter anderem eine deutliche Zunahme der über 65-Jährigen in der Bevölkerung. Wie soll eine Region wie das Saarland damit umgehen?

Birg: Am besten redet man nicht zuviel darüber, sonst fragen die Leute womöglich, warum die Politik nicht schon vor 30 Jahren etwas gegen die schon damals bekannte Fehlentwicklung unternommen hat.

Was hätte sie machen können?

Birg: Die zunehmende Alterung beruht zu 80 Prozent darauf, dass immer weniger Junge nachwachsen, nur zu 20 Prozent auf der steigenden Lebenserwartung. Das Problem der Abnahme der Geburtenzahlen hätte man packen müssen.

Stattdessen wächst der Anteil der Nichterwerbstätigen. Was bedeutet das für regionale Arbeitsmärkte und das Sozialsystem?

Birg: Die Versorgung der Rentner, Kranken und Pflegebedürftigen wird trotz steigender Beitrags- und Steuerlasten der Erwerbstätigen immer weniger finanzierbar. Es wird regionale Arbeitsmärkte mit hoher Arbeitslosigkeit und zugleich Arbeitsmärkte mit einem Mangel an Facharbeitern und Auszubildenden geben.

Meinung

Kleines Deutschland

Von SZ-Korrespondent

Detlef Drewes

Wer nach diesen alarmierenden Zahlen immer noch glaubt, die Folgen der zunehmenden Zahl älterer Menschen gingen an ihm vorüber, ist naiv. Kommunen, Länder und EU-Mitgliedstaaten steuern auf eine der am besten vorhergesagten Herausforderungen der zurückliegenden Jahre zu. Die Trends - weniger Einwohner, Landflucht und Anwachsen der Städte - sind ungebrochen. Sicher, es gibt längst die ersten Ansätze, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Aber die Daten belegen eben auch, dass dies zumindest im Überblick nicht effizient genug geschieht.

Die EU sollte sicherlich ebenso umdenken wie die national und regional Verantwortlichen. Denn Fördermittel müssen umgelenkt und anders verteilt werden, um ein Ausbluten der Landstriche mit all seinen Folgen zu verhindern. Zugleich brauchen auch die großen Städte als Magnete der nächsten Generation Assistenz, weil sie schon heute teilweise nicht in der Lage sind, die wachsenden Aufgaben zu bewältigen. Vom Städtebau über Umweltschutz bis hin zur Wasserver- und -entsorgung: Es gibt keinen Bereich, der unberührt bleibt. Und es wird Zeit, dafür die Weichen zu stellen.

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