Euphorie, Freude, Chaos und viel ImprovisationUnregierbar und blockiert?

Rom. Nach Italiens turbulenter Wahlnacht herrschte im politischen Rom gestern noch so etwas wie Schockstarre. Lediglich Silvio Berlusconi, einer der Sieger der Parlamentswahlen, war sofort wieder medial präsent: Der Ex-Regierungschef schloss ein Zusammengehen mit dem linken Pier Luigi Bersani nicht ausdrücklich aus

Rom. Nach Italiens turbulenter Wahlnacht herrschte im politischen Rom gestern noch so etwas wie Schockstarre. Lediglich Silvio Berlusconi, einer der Sieger der Parlamentswahlen, war sofort wieder medial präsent: Der Ex-Regierungschef schloss ein Zusammengehen mit dem linken Pier Luigi Bersani nicht ausdrücklich aus. Das könnte als Notlösung zu einer großen Koalition führen - und für eine gewisse Zeit das in tiefster Rezession steckende Italien stabilisieren.Denn nach dem spektakulären Aufstieg der Populisten des Beppe Grillo, dem nur hauchdünnen Sieg der Linken im Abgeordnetenhaus und dem Patt im Senat ist von drohenden Neuwahlen die Rede. Grillo kündigte bereits Widerstand gegen eine Koalition Berlusconis mit Bersani an. "Italien unregierbar" und "Parlament blockiert", so titelten die Blätter. "Wir brauchen jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken", sagte hingegen Berlusconi, der zunächst nur ein Bündnis mit dem abtretenden Premier Mario Monti ausschloss. "Neuwahlen wären in der jetzigen Situation nicht nützlich", sagte er.

In den nächsten Wochen richten sich alle Augen auf den Staatspräsidenten Giorgio Napolitano. Er muss in Konsultationen mit allen Beteiligten einen Weg suchen. Napolitano ist ein guter innenpolitischer Diplomat: Er zwang Berlusconi im November 2011, den Hut zu nehmen und setzte den Wirtschaftsprofessor Mario Monti als "Reformer Italiens" ins Amt.

Eine gleich zweifache Rebellion der Italiener brachte die aktuelle parlamentarische Blockade. Der populistische Aufstand gegen die "Politiker-Kaste" in Rom, die sich in einem Selbstbedienungsladen wähne, spülte Grillos Bewegung massiv ins Parlament. Und die schmerzhaften finanziellen Opfer, die Monti den Italienern im Jahr 2012 abverlangt hatte, nutzten Berlusconi. "Gewonnen hat das euroskeptische Italien", analysiert der rechtsliberale "Corriere della Sera".dpa Die Fünf-Sterne-Bewegung hat sich ein Vier-Sterne-Hotel ausgesucht. Das "Movimento 5 Stelle" hat noch keine eigene Zentrale, also kommt nach dem Erfolg bei der Parlamentswahl in Italien alles im noblen Saint-John-Hotel im römischen Stadtteil San Giovanni zusammen: Euphorie, Freude, Chaos und viel Improvisation. Es ist die Mischung, die künftig Italiens Politik prägen wird.

25 Prozent der Italiener haben der Bewegung des Komikers Beppe Grillo ihre Stimme gegeben, keine Partei war stärker. Stets ist von dem bald 65 Jahre alten, übersteuerten Komiker aus Genua die Rede. Protagonisten sind jedoch ab sofort die 162 Kandidaten, die nun ins Parlament einziehen werden und im Senat für das Erreichen der absoluten Mehrheit entscheidend sind.

Einer der weniger scheuen Kandidaten ist zum Beispiel der smarte 34 Jahre alte Alessandro Di Battista. Er stellt sich als Schriftsteller vor, will aber künftig "Angestellter der Bürger" sein. Di Battista hat natürlich die Slogans der Bewegung verinnerlicht, nicht nur den Schlachtruf "Tutti a casa!" (Geht alle heim!), der noch am vergangenen Freitag bei der Abschlussveranstaltung Beppe Grillos in Rom über die Piazza San Giovanni hallte. "Wir sind bereit zum Dialog über Ideen", sagt der zukünftige Abgeordnete.

Die Opposition zu Berlusconi und der Kampf gegen den moralischen Verfall der italienischen Politik könnte ein gemeinsamer Nenner der Bewegung mit dem Mitte-Links-Lager von Pier Luigi Bersani werden, das wird am Tag nach der Wahl schnell deutlich. Ob die Bewegung und ihr Euro-kritischer Chef auch Vorschläge zur Lösung der Wirtschaftskrise haben, weiß man bislang nicht. Ein übermüdeter Pressesprecher im Hotel sagt, er kenne das ganze Programm jetzt auch nicht auswendig. Immerhin klingt das penetrante und unsachliche Gebrüll von Beppe Grillo am Morgen nach der Wahl schon weniger rau. "Wir sind das Hindernis für PD und PDL", blufft er erst. Am Nachmittag hat auch ihn die Realität eingeholt: "Wir werden Gesetz für Gesetz prüfen."

Auch die "Grillini", die vor Monaten in offenen Online-Abstimmungen gewählt wurden, müssen nun pragmatisch werden. Als stärkster Partei Italiens kommt auf die 5-Sterne-Bewegung und ihre Parlamentarier große Verantwortung zu. In Kürze steht etwa nicht nur die Wahl des Staatspräsidenten an, schon bald muss über den Vorsitz der beiden Parlamentskammern entschieden werden und über das Allerheiligste der italienischen Politik. Dazu gehören die Kontrollkommission des Staatsfernsehens Rai und der Sicherheitsausschuss, der die Geheimdienste kontrolliert.

Das Modell, das künftig womöglich auf nationaler Ebene Zukunft hat, wird bereits in Sizilien erprobt. Dort stimmen die Grillo-Abgeordneten den Gesetzen der sozialdemokratisch geführten Regionalregierung zu, die sie für sinnvoll halten. "Wir stehen nicht für Protest, sondern für Vorschläge", behauptet Giancarlo Cancelleri, Sprecher der Bewegung in Sizilien. Der Fraktionsvorsitz im nationalen Parlament soll alle drei Monate wechseln.

Der Großteil der zukünftigen Abgeordneten und Senatoren ist unter 40 Jahre alt, viele davon sind Frauen. Der Prototyp des "Grillino" ist jung, weiblich, gebildet, eher links. Jeder in der Bewegung soll seine Fachkenntnisse einbringen, Juristen, Ärzte, Angestellte, Unternehmer. Alle Kandidaten haben versprochen, drei Viertel ihrer Diäten abzugeben. Auch auf die Erstattung der Wahlkampfkosten verzichtet die Gruppierung. Dieses Geld soll an Kleinunternehmer in Schwierigkeiten gehen, wie bereits in Sizilien. "Die 5-Sterne-Bewegung ist nicht nur ein politisches Projekt", sagt Giulia Sarti. "Sie ist auch eine Lebenseinstellung." "Wir stehen nicht für Protest, sondern für Vorschläge."

Giancarlo Cancelleri, Sprecher der 5-Sterne-Bewegung in Sizilien

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