EU-Parlament will Beitrittsgespräche stoppen

Straßburg · Die Europaabgeordneten wollen den massenhaften Verhaftungen in der Türkei nicht länger nur zusehen und stimmen für ein klares Zeichen: die Beitrittsgespräche einfrieren.

Mit breiter Mehrheit hat das Europaparlament ein vorübergehendes Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert. Die EU-Abgeordneten verlangten gestern von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten, nicht weiter mit Ankara über offene Verhandlungskapitel zu sprechen und keine neuen zu eröffnen. Rechtlich bindend ist die Aufforderung nicht. Die türkische Führung konnten die Europapolitiker damit nicht beeindrucken.

Von 623 Parlamentariern stimmten 479 für die Resolution. Nur 37 Abgeordnete stimmten gegen den Kompromiss, den die vier größten Fraktionen im Parlament ausgehandelt hatten; 107 enthielten sich. Sie reagierten damit auf die Verhaftungswelle in der Türkei nach dem Putschversuch Mitte Juli.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits vor der Resolution erklärt, dass er sie für wertlos halte. Ministerpräsident Binali Yildirim bekräftigte dies gestern. "Die Beziehungen mit der EU sind ohnehin nicht so eng", sagte er. Der türkische EU-Minister Ömer Celik nannte die Entscheidung "kurzsichtig und visionslos". Die Maßnahmen der türkischen Regierung während des Ausnahmezustands zu kritisieren, sei "eine Ungerechtigkeit gegenüber unserem Land". Nach Medienangaben wurden mehr als 36 000 Menschen in der Türkei in Untersuchungshaft genommen. Mehr als 75 000 zivile Staatsbedienstete und Angehörige der Sicherheitskräfte wurden entlassen, Tausende weitere suspendiert. Die türkische Regierung wirft ihnen Verbindungen zu dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen vor, den sie für den Putschversuch verantwortlich macht. Die EU-Abgeordneten forderten auch, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe automatisch eine formale Suspendierung der Beitrittsverhandlungen zur Folge haben solle. Für eine Wiederaufnahme der Gespräche bräuchte es danach einen einstimmigen Beschluss der EU-Länder. Erdogan hat mehrfach die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel gebracht.

Meinung:

Gut für Erdogan

Von SZ-Korrespondent Markus Grabitz

Mit seinem Beschluss verhilft das Europaparlament dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nur zu einem weiteren Propaganda-Erfolg. Er kann sich nun in der Türkei wieder einmal damit brüsten, dass Europa das Land und seine mehrheitlich muslimische Bevölkerung zurückweise. Damit wird er punkten können, weil nur noch eine kleine Minderheit der dortigen Bevölkerung überhaupt für einen EU-Beitritt des Landes ist. Viel entscheidender ist eine andere Frage: Wie will Europa es mit dem Flüchtlingspakt halten? Da würde es schmerzhafter, klare Kante zu zeigen, als bei den ohnehin festgefahrenen Beitrittsgesprächen. Konsequent wäre es schon, den EU-Türkei-Deal aufzukündigen. Nicht mehr gemeinsame Sache zu machen mit dem Despoten. Dies hieße aber auch: Womöglich wieder sehr hohe Flüchtlingszahlen in Kauf zu nehmen. Offensichtlich will das aber auch niemand so richtig.

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