EU-Gipfel kuscht vor dem Europa-Parlament

Brüssel. Wenn der Präsident des Europäischen Parlaments am Anfang eines EU-Gipfels spricht, ist ihm stets freundliche, aber selten ungeteilte Aufmerksamkeit sicher. Das wird heute Abend völlig anders sein. Nie zuvor ist die Europäische Volksvertretung so selbstbewusst aufgetreten, wie in den Tagen seit der Europawahl

Brüssel. Wenn der Präsident des Europäischen Parlaments am Anfang eines EU-Gipfels spricht, ist ihm stets freundliche, aber selten ungeteilte Aufmerksamkeit sicher. Das wird heute Abend völlig anders sein. Nie zuvor ist die Europäische Volksvertretung so selbstbewusst aufgetreten, wie in den Tagen seit der Europawahl. "Wir erwarten, dass künftig Gesetzesvorschläge kommen, wenn wir dies verlangen", machte gestern der Fraktionschef der christlich-konservativen EVP-Mehrheit im Plenum, Joseph Daul, klar. Und er ergänzte: "Sollte der Kommissionspräsident erneut so jemanden wie McCreevy vorschlagen, muss er sich Sorgen machen." Der irische Kommissar hatte sich vor dem Ausbruch der Finanzkrise beharrlich geweigert, alle jene Vorschläge des Parlamentes aufzugreifen, die jetzt zur Reform des Marktes vorgelegt wurden. Was Daul - wie auch die anderen Fraktionschefs - sagen wollte: Kommissionspräsident José Manuel Barroso muss für den Fall einer zweiten Amtszeit mit einem mächtigen Gegner rechnen - den Europa-Abgeordneten.

Das spüren die EU-Gipfelteilnehmer. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy haben - wie die Mehrheit der anderen auch - Barroso zwar praktisch bereits eine zweite Amtsperiode zugesichert, aber der 53-jährige Portugiese wird bei diesem Gipfeltreffen trotzdem noch nicht offiziell nominiert: Man will zunächst mit dem Parlament reden.

Zumal es erhebliche rechtliche Probleme gibt. Der Lissabonner Reformvertrag ist noch nicht in Kraft. Irlands Premier Brian Cowen will heute Abend offenbar ankündigen, dass die vier Millionen Bewohner der grünen Insel ein zweites Referendum abhalten, wenn die EU einige Garantien abgibt. So soll Brüssel beispielsweise zusagen, die geltenden Abtreibungsregeln des katholischen Irland unangetastet zu lassen. Das Versprechen fällt leicht, weil von Korrekturen ohnehin nie die Rede war. Trotzdem sind der Ausgang des Votums und damit die Zukunft des Reformvertrages nicht sicher, zumal auch noch eine höchstrichterliche Entscheidung aus Deutschland sowie zwei Präsidenten-Unterschriften aus Polen und Tschechien fehlen. Bis dahin aber gilt der Vertrag von Nizza. Der sieht eine Verkleinerung der Kommission von derzeit 27 auf 18 Kommissare vor. Einige Länder müssten also verzichten. Da noch nicht vereinbart wurde, wer das sein könnte, käme eine Festlegung auf Barroso als Kommissionschef einer Vorabentscheidung zugunsten Portugals gleich - ein juristisch schwer zu rechtfertigender Vorgang.

Vor diesem Hintergrund gerät fast in Vergessenheit, dass die Gipfel-Regisseure zwei weitere zentrale Entscheidungen verschieben wollen. Eigentlich müssten die Staats- und Regierungschefs der 27 Staaten nämlich festlegen, mit welchem Paket sie in den Klimaschutz-Gipfel im Dezember in Kopenhagen gehen wollen. Zwar hatten die EU-Finanzminister den heikelsten Punkt, die Solidaritätsabgabe für die Entwicklungsländer, schon abgehakt - sie sollen 100 Milliarden Euro pro Jahr bekommen. Doch wer wie viel zahlen müsste, ist ungeklärt. Und da man Streit möglichst vermeiden will, wird das Thema wohl ausgeklammert.

Ebenso wie das inzwischen vorliegende Maßnahmenpaket der Kommission zur verstärkten Überwachung der Finanzmärkte. Bis zuletzt hatte sich London gegen die Kontrolle der eigenen Geldinstitute von außen gewehrt. Doch man will den angeschlagenen Premier Gordon Brown nicht noch zusätzlich in Schwierigkeiten bringen und verzichtet deshalb auf einen formalen Beschluss. Die Kommission soll stattdessen bis zum Herbst genaue Details präsentieren.

Meinung

Hintergrund

Europa will langfristige Konsequenzen aus der größten Bankenkrise seit Jahrzehnten ziehen und die Finanzaufsicht in der Europäischen Union auf neue Beine stellen. Die EU-Kommission schlug eine umfassende Reform vor. Bis Herbst will Brüssel Gesetzesvorschläge vorlegen und braucht dazu heute grünes Licht von den EU-Staats- und -Regierungschefs. Vorgesehen ist ein Zwei-Säulen-System: Ein bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angesiedelter Europäischer Rat für Systemrisiken (European Systemic Risk Board/ESRB) soll Frühwarnungen und unverbindliche Empfehlungen abgeben, wenn etwa eine Bank so große Probleme bekommt, dass sie andere Geldhäuser mit in den Abgrund reißen könnte. Zudem sollen drei schon bestehende EU-Aufsichtsgremien für den Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektor zu Behörden aufgewertet und miteinander und den nationalen Behörden vernetzt werden. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort