Interview Christian Pfeiffer „Es ist nicht fünf vor zwölf!“

Saarbrücken · Der Kriminologe sagt: Deutschland ist so sicher wie lange nicht mehr. Die Beschwerden des saarländischen Einzelhandels entsprächen nicht den Fakten.

 Der Kriminologe Christian Pfeiffer

Der Kriminologe Christian Pfeiffer

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Praktisch zu jeder Frage, die Kriminalität oder Sicherheit in Deutschland betrifft, hat Christian Pfeiffer eine Studie parat. Der 74-Jährige war von 1988 bis 2000 und von 2003 bis 2015 Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, er gehört zu den renommiertesten Experten seines Fachs. Vor wenigen Tagen war Pfeiffer, der von 2000 bis 2003 Justizminister in Niedersachsen war, zu Gast bei einer Diskussion der Saarbrücker SPD.

Herr Professor Pfeiffer, der saarländische Einzelhandel hat der Saarbrücker Oberbürgermeisterin und dem saarländischen Ministerpräsidenten kürzlich einen Brief geschrieben, aus dem ich Ihnen kurz vorlesen möchte: „Es erreichen uns immer mehr Klagen von Besuchern und Mitarbeitern, die sich nicht mehr sicher fühlen in unseren Städten und Gemeinden. (…) Vielleicht ist es bei der tatsächlichen Sicherheitslage noch fünf vor zwölf – gefühlt ist es aber bereits fünf nach zwölf.“

PFEIFFER Im Hinblick auf die objektiven Fakten zur Inneren Sicherheit kann ich nur sagen: Das ist totaler Quatsch. Die Wirklichkeit ist, dass die Bundesländer, die die Daten des Jahres 2017 schon veröffentlicht haben, durchweg eine deutlich sinkende Kriminalität melden, und zwar auch im Gewaltbereich und bei anderen Delikten, die den Menschen Angst machen wie zum Beispiel dem Wohnungseinbruch. Der Brief ist aber trotzdem wichtig, weil er etwas beschreibt, was uns Sorgen machen muss: Das Sicherheitsgefühl vieler Menschen hat sich weit von der Wirklichkeit entfernt.

Was genau ist an der Klage der Verbände falsch?

PFEIFFER Es ist nicht fünf vor zwölf! Zwar stimmt es, dass 2016 insbesondere die Zahlen zur Gewaltkriminalität primär wegen der Flüchtlinge nach oben gegangen sind. Aber zum einen hing das auch mit der gegenüber fremden Tätern deutlich höheren Anzeigebereitschaft der Opfer zusammen. Zum anderen zeigen die neuen Zahlen, dass der Höhepunkt der Kriminalitätsbelastung durch Flüchtlinge überschritten ist. Offenkundig ist die Integration der Flüchtlinge vorangekommen. Vertrauen in die Innere Sicherheit ist zudem aus einem anderen Grund angebracht: Wir haben eine überaus tüchtige Polizei. Wir sind auf einem guten Kurs.

Woher rührt dann das weitverbreitete Gefühl der Unsicherheit?

PFEIFFER Das Problem ist, dass die Medien und hier vor allem das Fernsehen ein Bild der Wirklichkeit zeichnen, das der Wirklichkeit nicht entspricht. Es wird zu viel dramatisiert. Man ist einseitig auf die schweren Taten fixiert und berichtet fast nie über positive Trends wie etwa die Tatsache, dass Sexualmorde in den letzten 30 Jahren um fast 90 Prozent zurückgegangen sind, dass Schusswaffentötungen seit Mitte der 90er Jahre um drei Viertel abgenommen haben. Hinzu kommt aber noch ein völlig anderer Aspekt: Viele Menschen sind durch die starke Zuwanderung der letzten Jahre massiv verunsichert. Insbesondere in den größeren Städten verlieren sie angesichts der fremden Kulturen, die sich dort ausgebreitet haben, das Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Das beeinträchtigt massiv ihr persönliches Sicherheitsgefühl.

Die Zahlen der Polizei für das Saarland zeigen, dass die Zahl der Körperverletzungsdelikte in den Jahren 2016 und 2017 deutlich gestiegen ist.

PFEIFFER Ja, aber hier darf man etwas nicht übersehen: Die Sichtbarkeit der Kriminalität hat sich erhöht durch verstärkte Anzeigen. Die Menschen artikulieren ihre Ängste deutlicher als vor zwei Jahren, weil insgesamt eine Angstlage ihr Handeln bestimmt. Die Gewalt an Schulen hat angeblich 2016 dramatisch zugenommen, wenn man den polizeilichen Daten glauben will.

Wenn die objektive Sicherheitslage ganz gut ist, wie Sie sagen, wie schafft es dann insbesondere das Fernsehen, die Menschen so zu verunsichern?

PFEIFFER Das hängt mit der emotionalisierenden Wucht von Bildern zusammen. Wenn ich einem Kind vorlese, wie die Gretel die Hexe ins Feuer schubst und sie dann ihren Bruder befreien kann, schläft das Kind wunderbar. Wenn man diesem Kind aber einen Film zeigen würde, wie die Hexe ins Feuer geschubst wird und verbrennt, schläft das Kind miserabel. Das geht uns allen so. Wir werden überschüttet mit Bildern exzessiver Gewalt, die dramatisch und emotional sind, die Ängste auslösen. So unterscheiden die Menschen nicht mehr so sehr, ob die Bedrohung wirklich das eigene soziale Umfeld betrifft oder nur die internationale  Gesamtlage. Letztere ist bedrohlich. Aber die Sicherheit, die früher der amerikanische Präsident für uns ausgestrahlt hat, ist dahin, weil dort nun ein verrückter Macho regiert, der sprunghaft und unberechenbar handelt. Auch das trägt zu den Ängsten bei.

Ist es nicht auch ein legitimes Ziel der Politik, das Unsicherheitsgefühl zu reduzieren, auch wenn die nackten Zahlen vielleicht weniger Anlass zur Sorge geben?

PFEIFFER Ja, aber die Innenminister sollten positive Trends stärker betonen. Sie begnügen sich bei der Darstellung der Kriminalität meist mit dem Vergleich zum Vorjahr. So aber erfährt niemand, dass beispielsweise das Risiko, Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu werden, seit der Jahrtausendwende um mehr als ein Drittel abgenommen hat, oder dass die Jugendgewalt in den letzten zehn Jahren um fast die Hälfte zurückgegangen ist. Die guten Botschaften werden einfach zu wenig präsentiert und die Erklärungen dafür, warum beispielsweise in den letzten zehn Jahren trotz der Flüchtlinge die Gewaltkriminalität um 11 Prozent abgenommen hat oder warum wir 2016 den seit 20 Jahren niedrigsten Stand der Raubdelikte registrieren konnten – ein Minus von 38 Prozent.

Die Saarbrücker Oberbürgermeisterin fühlt sich durch den Brief des Einzelhandels in ihrer Forderung nach mehr Polizisten in der Stadt bestätigt. Ist das die Lösung?

PFEIFFER Ja, weil die Polizei einen richtig guten Job macht und wegen ihrer hohen Arbeitsbelastung durch Terrorabwehr und neue Aufgaben im Bereich der Cyberkriminalität verstärkt werden sollte. Nein, wenn man primär die Präsenz auf der Straße erhöhen wollte. Das mag bei den Bürgern gut ankommen. Aber mir sind Polizisten lieber, die sorgfältige Ermittlungsarbeit betreiben und Opfer und Tatverdächtige gründlich vernehmen.

Vielleicht fühlen sich Menschen auch beunruhigt durch die spektakulären Fälle im öffentlichen Raum wie Messerstechereien, die es auch in Saarbrücken zuletzt gegeben hat.

PFEIFFER Messerstechereien sind sehr häufig ein Ausdruck importierter Macho-Kultur. Hinzu kommt, dass die Menschen auf höchst gefährlichen Fluchtwegen nach Deutschland gelangt sind und sich zu ihrem Schutz bewaffnet haben. Die billigste Waffe war da für sie das Messer. Dass sie danach nicht sofort abrüsten, ist angesichts der Angstsituation in einem fremden Land nicht überraschend. Wenn dann Konflikte auftreten, hat man das Messer schnell in der Hand. Als vor 40 bis 50 Jahren die Türken und Italiener kamen, waren das in den Diskotheken oft die Messerstecher. Inzwischen sind sie gut integriert, während nun die  Neuankömmlinge aus arabischen Ländern mit solchen brutalen Taten auffallen. Und wieder liegt die Antwort in der bewährten Doppelstrategie: Einerseits die konsequente Strafverfolgung der Täter, andererseits die soziale Integration derjenigen, denen wir Aufenthaltsperspektiven geben.

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