„Erst kommt Regen, dann Kälte, dann der Tod“

Krieg in Syrien, Terror im Irak – hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) warnt vor einer humanitären Katastrophe. Mit ihm sprach SZ-Korrespondent Hagen Strauß.

Wie dramatisch ist die Situation der Flüchtlinge im Nordirak ?

Müller: Wir haben hier in Deutschland kaum Vorstellungen davon, wie die Situation vor Ort ist. Von 26 geplanten Flüchtlingscamps sind gerade mal acht fertiggestellt. Der Rest ist nur angedacht. Hunderttausende haben im Augenblick überhaupt keine Unterkunft. Und der Flüchtlingsdruck im Nordirak und in Kurdistan hat nicht nur durch den IS-Terror, sondern auch durch die Bombardierungen der US-geführten Koalition zugenommen.

Droht im nahenden Winter eine humanitäre Katastrophe?

Müller: Wir haben nur noch ein Zeitfenster von sechs Wochen. Erst kommt der Regen , dann kommt die Kälte - und dann kommt der Tod. Wir müssen deshalb jetzt schnell, effektiv und international abgestimmt handeln, damit die Menschen den Winter überleben.

Hat die internationale Gemeinschaft die Lage unterschätzt?

Müller: Nein. Es wird hervorragende Arbeit geleistet von allen Hilfsorganisationen. Das Camp, das ich besucht habe, ist innerhalb von acht Wochen für 10 000 Menschen aus dem Boden gestampft worden. Schneller ist das nicht zu schaffen. Aber der Zustrom der Flüchtlinge aus den IS-Gebieten ist massiv angeschwollen. Hier müssen wir handeln!

Was muss getan werden?

Müller: Es geht jetzt um Winterquartiere, um Essen. Wenn die Mittel nicht aufgestockt werden, müssen die Essensrationen gekürzt werden - auch für Säuglinge. Die Organisationen, vor allem Unicef, gehen bis ans menschlich Mögliche. Sie kümmern sich um Traumatisierte, um Vergewaltigte, um Folteropfer . Doch die Hilfen sind unterfinanziert. Deswegen brauchen wir eine sofortige Aufstockung der Mittel für das World Food Programm und für UNHCR.

Welche Rolle spielt die Europä-ische Union vor Ort?

Müller: Die Europäische Union findet bei dieser größten, humanitären Katastrophe vor der Haustür Europas nicht statt. Ich fordere nicht, aber ich bitte den neuen EU-Kommissionspräsidenten Juncker eindringlich, einen Sonderkommissar zu benennen. Außerdem muss Europa zügig eine Sondermilliarde aus bestehenden Töpfen einsetzen, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern.

Wird Deutschland seine Hilfe aufstocken?

Müller: Ja. Wir haben bereits im August für den Nordirak 20 Millionen Euro zusätzliche Mittel freigegeben. Wir müssen unsere Mittel erheblich aufstocken, um die Probleme zu bewältigen. Darüber werden die Haushalts- und Finanzpolitiker in den nächsten Wochen entscheiden.

Es wird viel darüber diskutiert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Wie sehen Sie das?

Müller: Wir werden vor Ort ein deutsches Camp aufbauen mit Misereor, mit Unicef und anderen. Das ist die sinnvollste und schnellste Hilfe für die Menschen. Ich habe mit vielen Flüchtlingen geredet. Sie wollen nicht nach Deutschland oder nach Europa. Sie warten darauf, dass Sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren oder sich in der Region ein neues Zuhause aufbauen können.

Erwartet die kurdische Seite auch weitere militärische Hilfe?

Müller: Die kurdische Regierung hat sich ausdrücklich dafür bedankt, dass Deutschland die Peschmerga-Kämpfer mit Waffen unterstützt. Mir gegenüber hat niemand ein stärkeres, militärisches Engagement eingefordert.

Wie lange wird das Drama in der Region noch anhalten?

Müller: Das kann niemand genau sagen. Aber wir müssen uns auf Jahre einstellen, allein bei der Bewältigung der immensen Flüchtlingsbewegung. Es geht nicht nur um Zelte, damit der Regen abgehalten wird. Es geht um Infrastruktur, es geht darum, dass Kinder und Jugendliche eine Perspektive bekommen. Die Menschen setzen da große Hoffnungen in uns.

Zum Thema:

HintergrundIm Skandal um misshandelte Flüchtlinge in Notunterkünften des Landes Nordrhein-Westfalen erhöht die Opposition den Druck auf die Regierung von Hannelore Kraft (SPD ). CDU und FDP legten Innenminister Ralf Jäger (SPD ) am Donnerstag einen Rücktritt nahe. Rot-Grün trage durch ein eklatantes Versagen eine Mitverantwortung für die Missstände. Jäger lehnte einen Rücktritt vehement ab. Die rot-grüne Regierung habe bereits erste "wirksame Maßnahmen" ergriffen, betonte er. Unter anderem soll eine zehnköpfige Taskforce darauf achten, dass Standards eingehalten werden. Es dürften außerdem nur noch Sicherheitsleute beschäftigt werden, die sich freiwillig von Polizei und Verfassungsschutz überprüfen lassen. Kraft sagte zu, man werde jedem Verdacht nachgehen und die bekannten Fälle strafrechtlich verfolgen. dpa

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