Erschöpft, frustriert und ausgebrannt"Definitiv mehr Patienten"
Berlin. Margitta B. arbeitete fünf Jahre lang als Leiharbeiterin in einem Heizungsbaubetrieb. In der Frühschicht, in der Spätschicht und in Spitzenzeiten auch nachts. Eines Morgens wurde die 50-jährige gelernte Verkäuferin wach und konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Arme und Beine waren wie gelähmt. Daniel S. war in einem weltweit tätigen Unternehmen für die Produkt-Entwicklung zuständig
Berlin. Margitta B. arbeitete fünf Jahre lang als Leiharbeiterin in einem Heizungsbaubetrieb. In der Frühschicht, in der Spätschicht und in Spitzenzeiten auch nachts. Eines Morgens wurde die 50-jährige gelernte Verkäuferin wach und konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Arme und Beine waren wie gelähmt. Daniel S. war in einem weltweit tätigen Unternehmen für die Produkt-Entwicklung zuständig. Oft kam der 46-jährige Ingenieur erst nach Mitternacht aus der Firma und hatte nur noch das Bedürfnis, nichts zu tun, damit der Druck von ihm abfällt. An Schlaf war kaum mehr zu denken. Den nächsten Tag begann er schon übermüdet und erschöpft.Margitta B. und Daniel S. sind keine Einzelfälle. Nach Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts und der AOK gibt es rund vier Millionen Bundesbürger mit behandlungsbedürftigen Depressionen. Allein im Vorjahr wurden in Deutschland rund 100 000 Menschen wegen einer Diagnose krankgeschrieben, die auf einen Burnout, also einen "Zustand physischer und psychischer Erschöpfung", hindeutet. Fachleute sprechen längst von der Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts. Schalke-Trainer Ralf Rangnick ist der aktuell prominenteste Fall.
Auch für die Wirtschaft ist die Entwicklung ein Problem. Zwischen 1998 und 2009 sind die Fehlzeiten in den Betrieben wegen psychischer Leiden um 76 Prozent nach oben geschnellt. Gesundheitsexperten beziffern die Kosten für den Produktionsausfall auf 26 Milliarden Euro. Die IG Metall schlägt deshalb jetzt Alarm. "Hier tickt nichts Geringeres als eine gesellschaftliche Zeitbombe", warnte ihr Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban gestern in Berlin. Die größte deutsche Einzelgewerkschaft hat eine Umfrage unter den Betriebsräten in der Metall- und Elektroindustrie durchgeführt, der den unheilvollen Trend bestätigt. In 86 Prozent der Unternehmen wird der Anstieg psychischer Erkrankungen demnach als ernst zunehmendes Problem wahrgenommen. Gut zwei Drittel der Betriebsräte gaben an, dass Stress und Leistungsdruck besonders nach der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise zugenommen hätten.
Zwischen der Wahrnehmung des Problems und den Hilfs- sowie Präventionsangeboten klafft jedoch eine große Lücke. 43 Prozent der Befragten sagten, dass es in ihren Betrieben keinerlei Unterstützung für "Ausgebrannte" gebe. Weitere 26 Prozent bemängelten die Hilfen als zu gering. Womöglich spielen auch Vorurteile eine Rolle. So werden psychische Leiden in der Arbeitswelt oft nur als Zeichen für eine mangelnde Belastbarkeit gedeutet. Auch gilt Burnout nicht als eigenständige psychische Erkrankung. Fachleute halten den Begriff sogar für beschönigend, um von der stigmatisierten Depression abzulenken.
IG-Metall-Vorständler Urban forderte die Politik auf, eine Anti-Stressverordnung zu entwickeln, wie sie schon in anderen Ländern existiert. Bei allen klassischen Gesundheitsgefährdungen wie etwa durch Lärm oder gefährliche Stoffe gebe es Präventionsregeln, nur nicht bei arbeitsbedingtem Stress, kritisierte Urban. Das müsse sich ändern.
Die Leiharbeiterin Margitta B wurde übrigens nach einer längeren Krankschreibung von ihrem Betrieb entlassen. Daniel S. hat selbst gekündigt, "weil ich einfach nicht mehr konnte". Und Ralf Rangnick? Niemand weiß derzeit, ob er als Bundesliga-Trainer wieder kommt.Herr Schwickerath, wird Burnout zu einer neuen Volkskrankheit?
Schwickerath: Die Anzahl der Patienten hat in den vergangenen drei, vier Jahren definitiv zugenommen - genauso wie die Probleme am Arbeitsplatz. Meist geht es aber nicht um das klassische Burnout, sondern um Mischbilder. Die Patienten haben in der Regel auch noch andere Probleme, zum Beispiel in der Familie oder sie haben Mobbing erlebt. Das kann dann durch die Arbeit zum Vorschein kommen.
Wie kann eine Firma Burnout vorbeugen?
Schwickerath: Zunächst einmal muss man für das Thema sensibel sein. Zum Zweiten sollte man die Warnsignale beachten, wie einen erhöhten Krankenstand. Und dann spielt das Arbeitsklima eine wesentliche Rolle. Ein schlechtes Arbeitsklima ist ein Nährboden, der Burnout begünstigen kann. Eine teilnahmslose oder gar zynische Haltung gegenüber Kollegen und Kunden kann ein Hinweis auf Burnout sein, da sollte eine Alarmlampe angehen. Das klassische Burnout-Syndrom ist die Erschöpfung. Auch einfache Dinge gehen dann nicht mehr leicht von der Hand.
In den USA erlauben immer mehr Firmen ihren Mitarbeitern einen Kurzschlaf. Bei uns ist das Nickerchen am Arbeitsplatz aber verpönt - das lässt sich doch gar nicht durchsetzen.
Schwickerath: Nein, dafür ist die Arbeitswelt nicht mehr organisiert. Dabei geht es ja nur um kurze Auszeiten von wenigen Minuten. Es ist aber äußerst schwierig, eine Betriebsleitung davon zu überzeugen, weil die Arbeitsdichte so stark zugenommen hat. Längerfristig ist das schädlich. Eine ganz entscheidende Rolle spielt die Bürokratisierung der Gesellschaft. Das reicht von übertriebenem Qualitätsmanagement bis zum Kontrollwahn.