Erinnerung an den "schwarzen Donnerstag"

Stuttgart. Dietrich Wagner ist das wohl bekannteste Gesicht. Zigarillo rauchend sitzt er vor dem Bauzaun des Technikgebäudes, ungefähr an der Stelle, wo er im vergangenen Jahr durch Strahlen eines Wasserwerfers sein Augenlicht verlor

 Heute vor einem Jahr: Demonstranten ducken sich, um sich vor den Wasserwerfern zu schützen. Foto: dpa

Heute vor einem Jahr: Demonstranten ducken sich, um sich vor den Wasserwerfern zu schützen. Foto: dpa

Stuttgart. Dietrich Wagner ist das wohl bekannteste Gesicht. Zigarillo rauchend sitzt er vor dem Bauzaun des Technikgebäudes, ungefähr an der Stelle, wo er im vergangenen Jahr durch Strahlen eines Wasserwerfers sein Augenlicht verlor. Wagner sprich etwas konfus von einem "langfristig geplanten Verbrechen des Staats", und von "vorsätzlich maximaler Gewalt gegen renitente Bürger".Die Parkschützer luden kurz vor dem Jahrestag am heutigen Freitag zur Pressekonferenz. Die Opfer berichten, allesamt Augenverletzte. "Keine ernsthaften Versuche der Aufklärung" stellt einer fest und klagt das "schandhafte Verhalten" des Staates an. Während auf der S-21-Baustelle die Kreissäge sirrt, sagt ein anderer, dass keine Schlussfolgerungen gezogen würden, empöre ihn mindestens ebenso wie der Wasserwerfereinsatz selbst.

Am 30. September 2010 ging die Polizei, herbeigerufen auch aus anderen Bundesländern, mit Hundertschaften im Stuttgarter Schlossgarten gegen Demonstranten vor, die sich Baumfällarbeiten für den unterirdischen Hauptbahnhof entgegenstellten. 114 Menschen wurden offiziell von Ersthelfern behandelt, die Gegner zählen rund 400. 16 von ihnen mussten ins Krankenhaus. Wagner, der zum Symbol des Widerstands gegen den Bahnhof wurde, erblindete auf einem Auge dauerhaft.

Der 30. September ging in die Geschichte des Landes als "schwarzer Donnerstag" ein. Zum Jahrestag bilanziert die Piratenpartei mit bitterbösem Unterton: "Seit 365 Tagen kein Wasserwerfereinsatz in Baden-Württemberg."

Vieles hat sich seither getan, anderes kam nicht vom Fleck. Noch immer campieren Protestler im Schlossgarten in Zelten oder Baumhäusern, viele Obdachlose oder Protestprofis von Robinwood darunter. Obwohl Stuttgarts Bürgerschaft das illegale Camping zunehmend stört und mehrfach die Räumung in Aussicht gestellt wurde, geschah bislang nichts - wohl aus Angst, ebensolche Bilder wie die vom 30. September zu produzieren. Denn sie waren es, die zur Abwahl der schwarz-gelben Landesregierung unter Stefan Mappus wesentlich beitrugen und Grün-Rot an die Regierung brachte. Auf die Schlichtung mit Heiner Geißler folgte der Stresstest. Ein Jahr danach ist der Weg frei für die Volksbefragung zur Mitfinanzierung von Stuttgart 21.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz brachte, noch vor der Landtagswahl, Widersprüchliches zutage: Einerseits war nach Film- und Tondokumenten die These der durchweg friedliebenden Demonstranten nicht aufrecht zu halten. Andererseits gab es seitens der Polizei gewaltige Fehleinschätzungen und unverhältnismäßige Gewalt. In 320 Verfahren gegen bekannte und nicht bekannte "Täter" auf beiden Seiten wurde ermittelt. Die drei Augenverletzten, die keinerlei Schadenersatz bekamen, klagen vor dem Verwaltungsgericht auf Rechtswidrigkeit der Räumungsaktion. Die Parkschützer kritisieren die "Schonung der Täter und Kriminalisierung der Opfer", weil Kleinstdelikte der Demonstranten mit "Akribie und Emsigkeit" verfolgt würden, während bei Beamten scheinbar endlos untersucht werde.

Hintergrund

Die Bürger in Baden-Württemberg werden am 27. November über das umstrittene Bahnbauvorhaben "Stuttgart 21" abstimmen. Nachdem der Landtag das Kündigungsgesetz der Regierung zuvor hatte durchfallen lassen, beantragten 68 Abgeordnete in dieser Woche die Volksabstimmung. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte, das Ergebnis des Volksentscheids werde gelten. dapd

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