Erfolgsstory ohne Westgeld und Solidarpakt

Prag. Iris Gleicke steuert eine Geschichte aus ihrer Heimat bei. "Bei uns in Suhl hat Simson gebaut. Leider haben die nicht so eine gute Entwicklung gemacht", erzählt die Bundestagsabgeordnete im Gästehaus der Skoda-Werke im böhmischen Mlada Boleslav

Prag. Iris Gleicke steuert eine Geschichte aus ihrer Heimat bei. "Bei uns in Suhl hat Simson gebaut. Leider haben die nicht so eine gute Entwicklung gemacht", erzählt die Bundestagsabgeordnete im Gästehaus der Skoda-Werke im böhmischen Mlada Boleslav. Gerade hat Skoda-Auslandschef Radek Spicar seine Erfolgszahlen runtergerattert: Vervierfachung der Produktion seit 1991 auf jetzt rund 750 000 Autos im Jahr, neue Fabriken in Indien, China, Russland und Kasachstan, Platz drei im großen VW-Verbund nach Volkswagen und Audi. Das ist aus Skoda im Jahr 21 nach der Wende geworden. Die Simson-Mopeds hingegen gibt es nur noch als Sammler-Stücke, ebenso die Trabis und die Wartburgs aus der einstigen DDR-Fahrzeugbranche. Spicar lächelt etwas mitleidig: "Auch ich bin mal Simson gefahren. Der war sehr beliebt bei uns."Gleicke staunt sich mit ihrer achtköpfigen SPD-Delegation aus dem deutschen Osten zwei Tage lang durch ein Land, das 1990 genauso bei nahe Null gestartet ist wie die ehemalige DDR. Aber ohne Westgeld und Solidarpakt-Milliarden. Und das trotzdem in vielem heute weiter ist als die neuen Länder. Oder gerade deshalb? "Das habe ich im Baltikum auch schon erlebt", erzählt die Abgeordnete Marlies Volkmer aus Dresden. "Überall, wo die Aufbauhilfe West fehlte, sind die Zuversicht und der Enthusiasmus größer." Vielleicht, sagt Volkmer, ist eine Erklärung dafür ja auch, dass diese Länder mit ihren eigenen Produkten weitermachen konnten, während die meisten Marken der DDR abgewickelt wurden. Bei ihr zum Beispiel war es eine Firma für Erntemaschinen, "obwohl die echt gut war". Die Tschechen hängen an ihren alten Marken, ob Skoda, Becherovka (Likör) oder Bata (Schuhe). Ihre Identität wurde nicht so stark gebrochen wie die der DDR-Bürger nach der Wende. Auch Steffen-Claudio Lemme, lange DGB-Chef in Thüringen, fällt auf: "Ich habe die Worte Entindustrialisierung oder Umbruch hier gar nicht gehört. Bei uns fängt damit jeder Vortrag über die Nachwendezeit an."

Die zehn Millionen Tschechen haben sich langsam, aber stetig auf ein bemerkenswertes Wohlstandsniveau hochgearbeitet. Rund 1000 Euro beträgt der durchschnittliche Monatsverdienst. Trotzdem müssen in den meisten Familien beide Partner arbeiten, um über die Runden zu kommen, die Preise sind nicht eben niedrig. Es gibt einen Mindestlohn, der nach Kaufkraft bei rund 700 Euro liegt, und ein umfangreiches Sozialsystem. Tschechien hat nach der Wende von seiner traditionellen industriellen Basis und den gut qualifizierten Arbeitnehmern profitiert; die ausländischen Investoren kamen in Scharen. Der Industrieanteil an der Wertschöpfung ist mit 40 Prozent heute größer als in Deutschland (30 Prozent), ebenso der industrielle Exportanteil von 80 Prozent. Letzteres allerdings hat dazu geführt, dass die über Jahre beständigen Wachstumsraten in der Weltwirtschaftskrise 2009 eine kräftige Delle erlitten. Trotzdem liegt die Arbeitslosenquote nach internationalem Standard gemessen auch heute bei nur sieben Prozent. In Ostdeutschland sind es elf Prozent. Und die Währung ist stabil. Man würde zwar dem Euro beitreten, sagt Jan Mladek, Schatten-Finanzminister der oppositionellen Sozialdemokraten. "Aber mit einem deutschen Euro." Also nur mit starken, stabilen Staaten.

Stephan Schmidt ist Sozialreferent in der Deutschen Botschaft und kennt die Verhältnisse aus dem Effeff. Die Tschechen, sagt er, sind wenig mobil. Wenn sie nach Deutschland fahren, dann um dort einzukaufen, weil im eigenen Land alles so teuer geworden ist. Sie wollten auch nach der Wende in ihrem Land bleiben, dort etwas werden. Josef Stredula, Chef der Metallgewerkschaft, sagt, dass es eine nennenswerte Wanderung von tschechischen Arbeitnehmern nach Deutschland auch seit Aufhebung der EU-Beschränkungen im Mai nicht gegeben hat. Eher kämen andersherum Deutsche ins Land, um hier Arbeit zu finden.

In Deutschland-Ost hat der Staat schnell perfekt funktioniert, die Verwaltung, die politischen Strukturen. Aber die Investoren sind trotzdem nicht in dem Ausmaß gekommen wie erhofft. In Tschechien ist es umgekehrt. Hier mangelt es nicht an Wirtschaft, hier ist eher der Staat das Problem. Hannes Lachmann vom Verband der deutschen Unternehmen in Tschechien berichtet, dass das Land bei einer Umfrage unter den ausländischen Investoren zwar immer noch der Wunschstandort Nummer eins ist, vor Slowenien. Aber dass es nur noch auf Platz zwei liegt, sobald man den Standort Deutschland selbst mit abfragt. "Ich habe es immer gesagt: Die kommen eines Tages alle zurück", sagt Dagmar Ziegler, SPD-Fraktionsvize, mit leichtem Triumph. Lachmann klagt auch über das Justizwesen und berichtet, dass die Korruption wächst. Am meisten beschweren sich alle Wirtschaftsvertreter bei den Gesprächen mit den deutschen Sozialdemokraten aber über die Zerschlagung der alten Berufsausbildung in den tschechischen Betrieben, der nichts Gleichwertiges gefolgt ist. Die Abgeordneten bohren nach. Ja, sagt Auto-Manager Spicar, das Land ist mittendrin im Fachkräftemangel, auch Skoda. "Wir finden das absolut nicht mehr sexy." Es ist doch nicht alles so einfach, auch nicht in Tschechien. "Da sieht man mal, was das wert ist", sagt Andrea Wicklein, die im Bundestag Mittelstandsbeauftragte ihrer Fraktion ist. Vielleicht entdecken die internationalen Investoren ja doch noch die Vorzüge des deutschen Ostens. Und sei es wegen der dualen Berufsausbildung.

Hintergrund

Nach dem aktuellen Regierungsbericht zum Aufbau Ost haben die neuen Länder zwischen 1990 und 1994 rund 82,2 Milliarden Euro aus dem Fonds Deutsche Einheit (FDE) bekommen. Im Rahmen des von 1995 bis 2004 laufenden Solidarpakts I wurde der Osten in den klassischen Länderfinanzausgleich einbezogen. Darüber hinaus gab es in dieser Zeit Sonderleistungen im Umfang von 105 Milliarden Euro. Mit dem Solidarpakt II, der seit 2005 gilt, werden bis 2019 weitere Sonderleistungen fällig, und zwar nochmals 105 Milliarden Euro sowie als "Zielgröße" weitere 51 Milliarden Euro. Die Mittel dienen der regionalen Wirtschaftsförderung, dem Straßen- und Wohnungsbau, der Innovationsförderung und der Beseitigung ökologischer Altlasten. Hinzu kommen noch EU-Fördermittel in zweistelliger Milliardenhöhe. vet

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