Erdogans Wut

Drohungen aus der Türkei lösen einmal mehr Sorgen in Deutschland und der gesamten EU aus. Kann Präsident Erdogan quasi auf Knopfdruck eine neue Flüchtlingskrise in Gang setzen? Rund drei Millionen Menschen allein aus Syrien haben in der Türkei Zuflucht gefunden.

Es ist für manche das ultimative Horrorszenario: Aus Ärger über die EU kündigt die Türkei die Abmachungen zur Flüchtlingskrise auf, Folge ist ein neuer Massenandrang auf Deutschland und andere Staaten. Oder ist das alles nur Panikmache? Die Reaktion der Türkei auf den Beschluss des EU-Parlaments, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen, ließ jedenfalls nur ein paar Stunden auf sich warten. Aber die unverhohlene Heftigkeit, mit der der Präsident gestern Drohungen Richtung Europa schleuderte, hat in Brüssel und anderen Hauptstädten doch viele überrascht. "Hören Sie mir zu", rief Recep Tayyip Erdogan in einer Rede vor einer Frauenorganisation in Ankara den Europäern zu. "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das!" Im Vorjahr habe die EU "um Hilfe gerufen", als zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze zu Bulgarien standen. "Sie haben damit begonnen, sich zu fragen: Was tun wir, wenn die Türkei ihre Grenzen öffnet?" Genau mit diesem Schritt drohe er jetzt, erklärte Erdogan.

Die Reaktion bedeutet eine Zuspitzung des Konfliktes zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Bisher waren es vor allem Vertreter der Regierung, die - wie noch vor wenigen Tagen Premierminister Binali Yildirim - damit gedroht hatten, den Flüchtlingspakt aufzukündigen. Nun machte sich Erdogan diese Ankündigung zu eigen. Zu sehr hatte die türkische Staatsführung verärgert, dass die Volksvertreter der 28 Mitgliedstaaten am Donnerstag in Straßburg mit großer Mehrheit eine Entschließung verabschiedeten, in der sie sich für ein Aussetzen der Beitrittsgespräche mit Ankara ausgesprochen hatten. Erdogan nannte das Votum schon vorab "bedeutungslos".

Das stimmt. Denn der Appell der Parlamentarier ist folgenlos: Eine Unterbrechung der Verhandlungen über eine Aufnahme Ankaras in die EU wird weder von der EU-Kommission noch von der Mehrheit der Staats- und Regierungschefs unterstützt. Im Gegenteil: Erst vor Wochen hatte die EU der Türkei bestätigt, dass die Behörden den Flüchtlingsdeal wie angekündigt umsetzen und die Beitrittsgespräche deshalb auch normal weiterliefen. Lediglich die österreichische Bundesregierung legte bisher eine offene Forderung nach Abbruch der Verhandlungen vor. Wiens Außenminister Sebastian Kurz erklärte nach dem Wutausbruch Erdogans, es wäre falsch, wenn die EU-Spitze, "die klare Stellungnahme des Parlamentes gegen die gedankenlose Fortsetzung der Beitrittsgespräche wegen solcher Drohungen ignorieren würde".

Zwar bemühte sich die deutsche Bundesregierung, die scharfen Worte des türkischen Präsidenten behutsam zurückzuweisen. "Drohungen beider Seiten helfen jetzt nicht weiter", sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer in Berlin. Doch das dürfte Erdogan kaum besänftigen, der seinerseits massiv unter Druck steht. Schließlich hat er seinem Volk versprochen, bis zum Jahresende die visafreie Einreise in die EU durchzusetzen. In Brüssel aber gibt man sich unbeeindruckt und besteht darauf, dass Ankara alle Voraussetzungen für eine Liberalisierung der Einreiseformalitäten erfüllen muss - dazu gehört die Abschaffung des umstrittenen Anti-Terror-Paragrafen, der die Regierung ermächtigt, Massenverhaftungen und Schließungen von Zeitungen im großen Stil durchzuführen. "So bekommt Erdogan die Visa-Freiheit sicherlich nicht", sagte gestern ein hochrangiges Mitglied des Parlamentes. Die Situation ist angespannt - auf beiden Seiten.

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