Flüchtlinge im Mittelmeer Erdogans gefürchtetes Machtspiel in der Ägäis

Athen · Auf den griechischen Inseln steigt die Zahl der Flüchtlinge, weil die Türkei sie nicht mehr abhält. Nun wächst die Furcht vor einer alten Drohung.

 Für Tausende Flüchtlinge, meist aus Syrien, sind die griechischen Inseln (hier ein Bild von Lesbos von März 2016) die Brücke ins sichere Europa. Seit dem Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei waren es weniger geworden. Doch nun kommen wieder mehr an – weil die türkische Küstenwache sie lässt.

Für Tausende Flüchtlinge, meist aus Syrien, sind die griechischen Inseln (hier ein Bild von Lesbos von März 2016) die Brücke ins sichere Europa. Seit dem Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei waren es weniger geworden. Doch nun kommen wieder mehr an – weil die türkische Küstenwache sie lässt.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Recep Tayyip Erdogan hat nun offenbar doch die Schleusen geöffnet: Seit gut zwei Wochen, seit dem 15. August, hat die türkische Küstenwache ihre Aktivitäten gegen Schlepper und Menschenschmuggler in der Ägäis fast auf Null reduziert. Das geht jedenfalls aus der aktuellen amtlichen Statistik der türkischen Küstenwache hervor. Die Folge: Die Zahl der Migranten, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln fliehen, ist seither sprunghaft angestiegen. Steckt dahinter das Szenario, das der türkische Präsident schon seit längerem immer wieder als Drohung über den Bosporus schickt?

Wiederholt hat Ankara damit gezündelt, das im März 2016 geschlossene Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union aufzukündigen. Jenes sieht vor, dass die EU alle Migranten zurückschicken kann, die illegal über die Türkei nach Griechenland kommen und kein Asyl erhalten. Für jeden zurückgeschickten syrischen Flüchtling darf ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen. Für die Versorgung der Flüchtlinge sollen bis Ende 2018 rund sechs Milliarden Euro von Brüssel nach Ankara fließen. Jüngst am Freitag forderte EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger zur Erfüllung der Zusage mehr Anstrengungen, sprich: Geld, von den EU-Staaten.

Doch seit dem Deal von 2016 hat sich das Verhältnis der Türkei zu Europa – und speziell zu Deutschland – wegen zahlreicher Konflikte  um Erdogans Machtpraxis merklich eingetrübt. Entsprechend wütend auf westliche Kritik reagiert die Türkei. Im März dieses Jahres – genau ein Jahr nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals – drohte der türkische Innenminister Süleyman Soylu unverhohlen der EU: „Wenn Ihr wollt, schicken wir Euch jeden Monat 15 000 Flüchtlinge. Das wird Euch umhauen!“

Seit zwei Wochen sieht es in der Ägäis nun ganz danach aus, als mache die Türkei ernst. Denn immer mehr Flüchtlinge erreichen die griechischen Inseln aus Richtung Türkei, weil die Küstenwache sie passieren lässt. Den vorläufigen Höhepunkt meldete die griechische Polizeidirektion für die Nord-Ägäis Anfang dieser Woche: Binnen eines Tages seien 404 Schutzsuchende über die Ägäis zu den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos gekommen. Der plötzliche Anstieg setzte sich im Laufe der Woche fort. Hunderte erreichten die griechischen Inseln und wurden in den lokalen Hotspots registriert. Damit hat sich die Zahl aller Neuankömmlinge seit dem 1. August allein auf Lesbos, Chios und Samos bis einschließlich Dienstag dieser Woche auf 2208 erhöht – Tendenz stark steigend. Denn etwa die Hälfte von ihnen traf dort seit eben jenem 15. August ein, an dem die türkische Küstenwache das Patrouillieren quasi einstellte. Nicht nur auf Lesbos, Chios und Samos kamen seither deutlich mehr Flüchtlinge und Migranten an, auch auf den übrigen griechischen Inseln in der Ost- Ägäis, wie Kos und Leros, stiegen die Ankunftszahlen.

Mittlerweile warten laut Athener Innenministerium rund 14 100 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. Erst dann dürfen sie weiterreisen – oder werden im Zuge des Flüchtlingsdeals in die Türkei zurückgeschickt, sofern ihnen kein Asyl gewährt wird. Nach jüngsten Angaben des Migrationsminister Jannis Mouzalas bearbeiten die griechischen Behörden aktuell 56 000 Asylanträge.

In Griechenland nimmt unterdessen die Sorge zu, die türkischen Behörden könnten im Umgang mit den Menschenschmugglern in der Ägäis fortan eine demonstrative Laxheit an den Tag legen. Nur sieben operative Einsätze zählte die Küstenwache seit 15. August. Dabei wurden laut amtlicher Statistik insgesamt 322 Migranten auf Booten in türkischen Gewässern aufgegriffen. Demgegenüber kam aber eine vielfach höhere Zahl an Flüchtlingen aus der Türkei auf den griechischen Inseln an.

Besonders den Behörden auf Lesbos, Chios und Samos treibt der abrupte Anstieg der Flüchtlingszahlen Sorgenfalten auf die Stirn. „Zuletzt schwillt der Flüchtlingsstrom besorgniserregend an“, sagt Spyros Galinos, Bürgermeister von Lesbos. Und fügt hinzu: „Ich weiß nicht, ob dies auch eine Änderung der Politik der Türkei symbolisiert, also das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen noch gilt, oder der Deal faktisch annulliert wird. Wir hatten uns an zehn, 20 oder 30 Neuankömmlinge gewöhnt – und dies auch nicht jeden Tag“. Und plötzlich kämen 150 oder 200 Flüchtlinge an – und zwar pro Tag.

Schon länger beklagen nicht nur die griechischen Behörden, dass Europa sie mit der Flüchtlingsfrage allein lasse. Und während die EU weiter um die interne Verteilung der Flüchtlinge streitet, die vor allem osteuropäische Mitgliedstaaten verweigern, zündet auch das EU-Türkei-Deal nicht wie erhofft. Seit Inkrafttreten des Abkommens im März 2016 wurden nur rund 1000 Menschen aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. In den vergangenen Tagen liegt die Zahl der Rückführungen gar bei Null.

Das liegt vor allem an den langwierigen griechischen Asylverfahren. Eine Aussetzung des Abkommens mit Erdogan hätte daher faktisch keine nennenswerten Auswirkungen. Brisant wäre es hingegen, falls die Türkei jetzt dauerhaft die Schleusen öffnete. Im vergangenen Jahr hatte die Türkei die Kontrollen an der Küste noch intensiviert. Nach Angaben der türkischen Küstenwache wurden 2016 insgesamt 37 130 Flüchtlinge in türkischen Gewässern aufgegriffen und an der Überfahrt gehindert. Damit ist nun Schluss – zumindest vorerst.

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