Entsetzen über Organspende-Skandal"Die Kontrollen reichen nicht aus"

Göttingen/Berlin. Neue Leber gegen Geld? Ein großer Medizin-Skandal am Uniklinikum in Göttingen rückt das heikle Thema Organspende wieder ins Rampenlicht. In der Klinik soll ein Oberarzt mindestens zwei Dutzend Patienten auf dem Papier viel kränker gemacht haben als sie waren. Im Ergebnis bekamen sie vermutlich schneller eine Spender-Leber transplantiert

 An der Uni-Klinik in Göttingen soll ein Arzt Kranken-Daten manipuliert haben. Fotos: Stratenschult/dpa

An der Uni-Klinik in Göttingen soll ein Arzt Kranken-Daten manipuliert haben. Fotos: Stratenschult/dpa

Göttingen/Berlin. Neue Leber gegen Geld? Ein großer Medizin-Skandal am Uniklinikum in Göttingen rückt das heikle Thema Organspende wieder ins Rampenlicht. In der Klinik soll ein Oberarzt mindestens zwei Dutzend Patienten auf dem Papier viel kränker gemacht haben als sie waren. Im Ergebnis bekamen sie vermutlich schneller eine Spender-Leber transplantiert. Andere schwerstkranke Patienten könnten deswegen gestorben sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Wenn sich der Verdacht bestätige, sei das der bisher größte Transplantationsskandal in Deutschland, sagt Hans Lilie, Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation.Der Verdacht wirkt wie ein Schock - nicht nur auf Transplantationsmediziner. Auch die Politik fürchtet einen Imageschaden für die Organspende, die gerade reformiert wurde - und in Deutschland dringend gebraucht wird. 12 000 Patienten stehen auf Wartelisten. Kommen neue Nieren, Leber oder Herzen nicht rechtzeitig, sterben sie.

"Ich bin tief erschüttert und fassungslos. Solche Manipulationen hat bisher niemand für möglich gehalten", sagt Wolf Otto Bechstein, Vorstand der Deutschen Transplantationsgesellschaft. Er kommt gerade aus dem OP in der Uni-Klinik Frankfurt (Main). Noch hält er die vermutete Manipulation für einen negativen Einzelfall. Bisher sei das Vertrauen unter Kollegen sehr groß. Nicht nur bei der medizinischen Qualifikation, auch beim ärztlichen Ethos. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, müsse es Konsequenzen geben. "Wir sind offen für mehr stichprobenartige Kontrollen."

Am System der Organvergabe in Deutschland zweifeln die Mediziner nicht. Dabei kommt es vor allem auf Erfolgsaussicht und Dringlichkeit der Organverpflanzung an. Nach Ansicht von Bechstein ist die Vergabe über die Stiftung Eurotransplant in den Niederlanden gegen kriminelle Machenschaften wie Organhandel gewappnet. "Ich weiß bei jedem Organ in meinem OP, wo es herkommt", sagt er. Es sei in Deutschland nicht möglich, Organe zu kaufen. Aber ist es möglich, mit einem simplen Trick die Wartelisten zu manipulieren? "Simpel bestimmt nicht", sagt Bechstein. Aber für einen erfahrenen Arzt vielleicht doch möglich.

Auch die Deutsche Stiftung Organtransplantation glaubt, dass gegen bewusste Betrugsversuche kein System auf der Welt helfe. 2010 verurteilte das Landgericht Essen einen Transplantationsmediziner zu drei Jahren Haft. Um frühzeitig und vom Chefarzt persönlich behandelt zu werden, hatte er seine todkranken Patienten genötigt, ihm "freiwillig" Geld zu spenden. Er erhielt insgesamt 150 000 Euro.

Noch ist nicht gewiss, ob der 45 Jahre alte Mediziner in Göttingen, der inzwischen nicht mehr an der Klinik arbeitet, auch bei seinen Patienten kassierte. Er war jedoch bereits vor Wochen ins Zwielicht geraten, als er Geld von einem russischen Patienten angenommen und ihm dafür bevorzugt eine Spenderleber eingepflanzt haben soll. Doch noch eine Variante ist denkbar. Ärzte können neben einem Grundgehalt leistungsabhängig entlohnt werden - je mehr Transplantationen sie vornehmen, desto besser ist die Bezahlung.

Kriminelle Energie wird vom Organmangel in Deutschland befördert. 2011 bekamen nur rund 4000 todkranke Patienten durch Organverpflanzung eine neue Lebenschance. Eine Folge des verzweifelten Wartens auf ein Organ von einem Toten sind Lebendspenden von engen Verwandten oder Angehörigen. Der Entschluss kann zum Politikum werden: 2010 spendete der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier seiner Frau eine Niere. Bei der Organspende liegt Deutschland international im unteren Drittel. Bundestag und Bundesrat haben auch deshalb eine Reform beschlossen, die Anfang November in Kraft tritt. Danach soll jeder Bürger mindestens einmal im Leben gefragt werden, ob er Organe spenden will oder nicht. Nun geht auch in der Bundespolitik die Sorge um, dass der mögliche Betrug die Bereitschaft zur Organspende massiv erschüttern könnte. Die Befürchtungen sind nicht unbegründet.

Foto: Dietze

Nach dem Fall Göttingen könnte man meinen, die Armen werden Ersatzteillager für Reiche.

Sester: Diese Gefahr sehe ich nicht. Es gibt aber immer wieder schwarze Schafe in der Medizin. Hier wollte jemand wohl seine Karriere pushen, indem er sich als erfolgreicher Transplanteur zeigt. Es wurden aber keine Organspender geschädigt, sondern Patienten auf der Warteliste.

Wie groß ist die Betrugsgefahr in der Transplantations-Medizin?

Sester: Aufgrund des Organmangels müssen viele Patienten zu lange warten und werden so krank, dass sie auch mit einem neuen Organ sterben. Daher wird bei der Lebertransplantation statt der reinen Wartezeit als Vergabekriterium der so genannte Meld-Score angewandt, der die Schwere der Lebererkrankung angibt. Der Fall Göttingen zeigt leider, dass es hier Lücken gibt.

Dem Arzt dürfte sein eigener Patient näher sein als ein anonymer Name auf der Warteliste. Verleitet das zu Manipulation?

Sester: Es ist die Pflicht des behandelnden Arztes, für den eigenen Patienten das Optimale herauszuholen und den Krankheitsverlauf im Rahmen der gesetzliche Vorgaben bei Eurotransplant so abzubilden, dass er die Chance für das notwendige Organangebot besteht. Die Beratung im Team der mitbehandelnden Kollegen sollte sicherstellen, dass dies auch innerhalb der Legalität geschieht. Zum Beispiel muss auch in Homburg seit letztem Jahr ein Nierenarzt dem Leberarzt bestätigen, falls eine Dialyse erforderlich ist.

Manipulation bleibt möglich?

Sester: Die bisherigen Kontrollen bei Lebertransplantation reichen nicht. Man könnte sich unangemeldete Kontrollen durch andere Transplantationszentren vorstellen. Diese könnten sich exemplarisch Krankenakten vornehmen und prüfen, ob sie mit dem übereinstimmen, was in der Datenbank von Eurotransplant eingetragen wurde.

Meinung

Organe für den Geldbeutel

Von SZ-KorrespondentStefan Vetter

 Dr. Urban Sester

Dr. Urban Sester

 An der Uni-Klinik in Göttingen soll ein Arzt Kranken-Daten manipuliert haben. Fotos: Stratenschult/dpa

An der Uni-Klinik in Göttingen soll ein Arzt Kranken-Daten manipuliert haben. Fotos: Stratenschult/dpa

 Dr. Urban Sester

Dr. Urban Sester

Der erschreckende Vorgang in Göttingen markiert nicht nur eine kaltschnäuzige Verletzung aller ethischen Normen, die dem Mediziner-Stand heilig sein müssten. Er torpediert auch sämtliche Anstrengungen der Bundesregierung, mit dem kürzlich verabschiedeten Transplantationsgesetz die ohnehin schon nicht sonderlich ausgeprägte Organspendebereitschaft in der Bevölkerung zu beflügeln. Warum sich dafür noch hergeben, wenn man vermuten darf, dass die Spende bei den Falschen ankommt? Und was soll eigentlich die Masse der Menschen denken, die auf ein lebenswichtiges Organ wartet, aber weiter vertröstet wird? Der Göttinger Fall hat viel Vertrauen zerstört. Um es wieder herzustellen, ist zuallererst eine brutalst mögliche Aufklärung der kriminellen Machenschaften notwendig. Und es braucht verstärkte Kontrollen in den Kliniken. Dafür bietet das neue Transplantationsgesetz übrigens eine gute Handhabe.

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