Eiszeit in der Koalition

Berlin. Die Zeit der mühevollen Zurückhaltung im schwarz-roten Koalitionsbetrieb ist endgültig vorbei. SPD-Chef Franz Müntefering und der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier attackierten die CDU-Regierungschefin gestern in ungewohnter Schärfe: Angela Merkel sei nur noch "Geschäftsführerin" im Kanzleramt, ätzte Müntefering

Berlin. Die Zeit der mühevollen Zurückhaltung im schwarz-roten Koalitionsbetrieb ist endgültig vorbei. SPD-Chef Franz Müntefering und der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier attackierten die CDU-Regierungschefin gestern in ungewohnter Schärfe: Angela Merkel sei nur noch "Geschäftsführerin" im Kanzleramt, ätzte Müntefering. Steinmeier warf ihr "übles Spiel" im Zusammenhang mit der Unionsblockade gegen die Jobcenter-Reform vor. Entgegen allen koalitionären Beteuerungen ist der Wahlkampf damit schon jetzt voll entbrannt. Dass die beiden SPD-Spitzen gestern in getrennten Interviews Tacheles redeten, war angeblich ein zeitlicher Zufall. Den aufgestauten Ärger bei den Genossen gaben sie jedoch trefflich wieder. Bereits am Montag sprach Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) in vertraulicher Runde von einem "kollektiven Nervenzusammenbruch" bei der Unionsfraktion. Er habe sich im Auftrag der Kanzlerin mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) über die Neuordnung der Jobcenter verständigt. Auch das CDU-Präsidium unter Führung Merkels habe zugestimmt, ohne Erfolg, schilderte Scholz den Ablauf. Sein Frust sollte sich noch steigern, als bekannt wurde, dass Merkel in der Sitzung der Unionsfraktion am Tag darauf persönlich gegen den schon sicher geglaubten Kompromiss votiert hatte. Seine internen Schilderungen vom Montag ließ Scholz daraufhin als offizielles Statement verbreiten. "Statt Führung zu zeigen und offensiv die Einigung durchzusetzen, verdrückt sich die CDU-Vorsitzende", war darin auch zu lesen. Müntefering und Steinmeier nahmen diesen Ball gestern auf, um einen weiterenTreffer gegen Merkel zu landen. "Die Kanzlerin hat gegen sich selbst gestimmt", höhnte Müntefering. Dabei blockiert die Unionsfraktion nicht nur die Jobcenter-Reform, sondern auch den Gesetzentwurf zur Austrocknung ausländischer Steueroasen. Hier wirkt Merkel ebenfalls wie eine Getriebene, weshalb Steinmeier stichelte: "Wer international Forderungen stellt, der muss sie zu Hause auch durchsetzen". Derweil drohte Müntefering unverblümt: "Sollte die Union da hinhaltend taktieren, gibt es Krach".Wahlstrategisch betrachtet kann der SPD nichts Besseres passieren. Der inhaltliche Riss bei wichtigen Sachfragen quer durch die Union und die Führungsschwäche Merkels sind der Stoff, aus dem Steinmeier & Co ihre Hoffnung auf ein gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl destillieren. "Es gibt keine Wählerschaft, die parteiinternen Streit mehr hasst, als die der Union", erklärte Parteienforscher Jürgen Falter gegenüber unserer Zeitung. Eine Attacke gegen die politische Farblosigkeit Merkels biete aus Sicht der SPD auch den Vorteil, das Gefühl vieler Granden der CDU anzusprechen. "Dort herrscht ebenfalls Unzufriedenheit darüber, dass Merkel nicht einfach mal auf den Tisch haut. Insofern greift die SPD das Unbehagen in der Union auf."Die Merkel-Truppe ist von der Rolle, und die einst von heftigen Flügelkämpfen geschüttelte SPD versteht sich als Hort koalitionärer Stabilität. Das klingt immer noch ein bisschen wie verkehrte Welt. Und es ist ja auch nicht so, dass die Sozialdemokraten von der neuen Konstellation profitieren würden: Mit Sympathiewerten zwischen 24 bis 27 Prozent sind die demoskopischen Befunde weiter ernüchternd. Umgekehrt liegt allerdings auch die Union unterhalb ihrer eh schon mageren 35,2 Prozent, die sie bei der letzten Bundestagswahl erzielte. "Alles was der Union schadet, kann der SPD potenziell nützen", analysiert Falter. Möglich sei aber auch, dass die FDP daraus Vorteile ziehe. Die CDU verzichtete gestern auf größere Gegenangriffe. Generalsekretär Ronald Pofalla sagte lediglich, die SPD habe "den Schalter schon komplett auf Wahlkampf umgelegt". Das sei verantwortungslos gegenüber dem Land.

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