Trendwende bei der Einschulung Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Berlin/Saarbrücken · Lange konnten Kinder nicht früh genug eingeschult werden. Doch in den Ländern zeichnet sich eine Trendwende ab – auch im Saarland.

 In mehreren Bundesländern steigt inzwischen das Durchschnittsalter bei Einschulungsfeiern wieder.

In mehreren Bundesländern steigt inzwischen das Durchschnittsalter bei Einschulungsfeiern wieder.

Foto: ZB/Patrick Pleul

Länger im Kindergarten bleiben oder doch lieber so früh wie möglich in die Schule? In dieser Frage deutet sich eine Trendwende an: In mehreren Bundesländern gibt es immer weniger Schüler, die sehr jung in die erste Klasse kommen, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur zeigt. Experten machen dafür nicht nur veränderte politische Weichenstellungen verantwortlich, sondern auch ein Umdenken der Eltern. Eine Rolle spielt demnach auch ein neuer Blick auf Kitas, die stärker als Bildungseinrichtungen wahrgenommen werden – nicht mehr nur als Orte, an denen Kinder spielen.

Beispiel Nordrhein-Westfalen: Im vergangenen Schuljahr wurden in dem bevölkerungsreichsten Bundesland 3896 Kinder eingeschult, die erst nach dem Stichtag 30. September sechs Jahre alt wurden (insgesamt 159 805 Eingeschulte). 2016 waren noch rund 750 Kinder mehr mit fünf Jahren in die Schule gekommen – bei einer fast identischen Anmeldezahl. „Es hat ein gesellschaftliches Umdenken stattgefunden“, sagt Anne Deimel vom NRW-Landesverband Bildung und Erziehung (VBE). Früher sei es in der Bildung mehr um Schnelligkeit gegangen.

Besonders deutlich zeigt sich eine Trendumkehr im Vergleich zu früheren Jahren auch in Berlin, Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg, wo rund zwei Prozent der Kinder früher eingeschult werden als regulär vorgesehen. Damit liegt der Anteil deutlich niedriger als früher. Im Schuljahr 2004/05 betrug die Quote vorzeitig eingeschulter Erstklässler dort fast zwölf Prozent.

Wie sieht es im Saarland aus? Hier beginnt die Schulpflicht für Kinder, die bis zum 30. Juni sechs Jahre alt werden. Anders als in NRW oder Baden-Württemberg, wo der Stichtag im Herbst liegt – nach dem Schulstart. Im Saarland können Eltern beantragen, dass ihre Sprösslinge vorzeitig eingeschult werden. „Wenn sie im laufenden oder im folgenden Kalenderjahr das sechste Lebensjahr vollenden“, wie es im Gesetz heißt. 2017 ging die Schule so für 408 Kinder früher los, wie das saarländische Bildungsministerium auf SZ-Anfrage mitteilt. Bei einer Gesamtzahl von 7924 Erstklässlern. Prozentual geht der Anteil der Frühstarter im Land seit 2009 kontinuierlich zurück – von über sieben auf etwas mehr als fünf Prozent.

Woran könnte die Trendwende liegen? Der Bundeselternrat verweist auf die Qualität der Kitas, die heute viel besser sei als noch vor zehn Jahren. „Ich kann nachvollziehen, wenn Eltern ihren Kindern länger Zeit im Kindergarten geben wollen“, sagt Elternratschef Stephan Wassmuth. Auch Schulexperte Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung betont: „Eltern erleben Kitas zunehmend nicht nur als Betreuungs-, sondern auch als Bildungseinrichtungen.“

Als einen möglichen Grund für die zurückgehende Zahl eingeschulter Fünfjähriger nennt Experte Zorn, dass der Elternwille bei Politikern angekommen sei – wie zum Beispiel in Berlin. Der Stichtag für die Einschulung in der Hauptstadt wurde zum Schuljahr 2017/18 um drei Monate verschoben: Schulpflichtig sind seither alle Kinder, die bis zum 30. September des Einschulungsjahrs sechs werden. Vorher wurden Kinder zum Teil schon mit fünfeinhalb Jahren eingeschult.

Der Bildungsforscher Zorn sagt: „Angesichts der steigenden Vielfalt im Klassenzimmer heißt das Gebot der Stunde personalisiertes, individualisiertes Lernen.“ Die Politik sollte aus seiner Sicht über flexible Schuleingangsphasen nachdenken. Im Extremfall könne das heißen, dass die Schüler gar nicht mehr zu einem jährlichen Stichtag eingeschult würden. „Ein Kind könnte dann flexibel unterjährig von der Kita in die Schule wechseln, wenn es reif dafür ist.“

Der Grundschulverband sieht auch einen Wandel im Verhalten bildungsbewusster Eltern. Eine frühe Einschulung werde nicht mehr so sehr als Bestehen einer ersten Prüfung gesehen, vielmehr schauten Eltern nun stärker auf die gesamte Schullaufbahn, urteilt die Verbandsvorsitzende Maresi Lassek. „Je stabiler das eigene Kind den Übergang in die Schule bewältigt, desto einfacher schafft es auch den weiteren Bildungsweg, so der Gedankengang dieser Eltern“, sagt Lassek. „Und Eltern ist es auch klar, dass ein Kind, das schon ein Jahr älter ist, von seiner Persönlichkeitsentwicklung her eine bessere, weil stabilere Ausgangslage hat.“

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