Eine Ohrfeige für Europas Asylpraxis

Brüssel. Europa muss seinen Umgang mit Asylbewerbern neu ordnen. In einem aufsehenerregenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am Freitag die bisherige Praxis scharf gerügt

 Eine Frau mit ihrem Baby steht in einer Menge von Flüchtlingen, die in Griechenland Asyl fordern. Polizisten drängen sie zurück. Foto: dpa

Eine Frau mit ihrem Baby steht in einer Menge von Flüchtlingen, die in Griechenland Asyl fordern. Polizisten drängen sie zurück. Foto: dpa

Brüssel. Europa muss seinen Umgang mit Asylbewerbern neu ordnen. In einem aufsehenerregenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am Freitag die bisherige Praxis scharf gerügt. Im vorliegenden Fall ging es um einen afghanischen Flüchtling, der 2008 über Griechenland in die EU eingereist war und in Belgien einen Asylantrag gestellt hatte, da ihm in seiner Heimat Gewalt von den Taliban drohe. Entsprechend der neuen Asyl-Richtlinie schickte Belgien ihn - allerdings ohne jede Betreuung - nach Griechenland zurück, wo der Mann eine jahrelange Odyssee durch überfüllte Haftzentren mit unmenschlichen Bedingungen erlebte. Nun stellten die Straßburger Richter fest: Beide beteiligten Länder haben gegen den Schutz der Menschenwürde verstoßen und eine "erniedrigende Behandlung" von Asylbewerbern zugelassen.

Die Wirkungen des Urteils reichen weit über diesen Einzelfall hinaus. Rund 45 000 Flüchtlinge werden derzeit von den griechischen Behörden "in überfüllten Zellen und unter unhygienischen Bedingungen in Haftzentren" festgehalten. Die endgültige Entscheidung kann bis zu fünf Jahren dauern, stellte der Gerichtshof, der keine Einrichtung der EU, sondern des Europarates ist, fest. Diese Bedingungen seien "untragbar". Für mehrere zehntausende Menschen, die auf ein Urteil über ihren Antrag warten, stünden nur rund 1000 Plätze zur Verfügung. Aufgrund fehlender "Kommunikation zwischen den Behörden und den Betroffenen, fehlender Ausbildung des Personals, einem Mangel an Dolmetschern sowie fehlender Rechtshilfe" hätten die Asylanten nur eine "geringe Chance, dass ihr Antrag ernsthaft geprüft" werde. Es sei deshalb kein Wunder, dass in Griechenland nur 0,1 Prozent der Bewerbungen in erster Instanz erfolgreich seien. In anderen EU-Staaten liege der Anteil mit 36,2 Prozent deutlich höher.

Die europäische Dimension des Urteils liegt in der Praxis, auf die sich die Mitgliedstaaten im so genannten Dublin-II-Abkommen geeinigt haben. Demnach muss das EU-Land, in dem der ausländische Staatsbürger erstmals europäischen Boden betritt, das gesamte Verfahren abwickeln. Von den rund 270 000 Asylbewerbern, die 2010 in die Union drängten, wählte mehr als die Hälfte die Route über Griechenland. Die dortigen "Zustände" dürften den anderen Mitgliedstaaten aber nicht egal sein, schreiben die Richter in ihrem Urteil. Wer wie Belgien einen Bewerber dorthin wieder zurückschicke, mache sich ebenfalls eines Verstoßes gegen die Menschenrechts-Charta schuldig. Damit stellten die Richter de facto die komplette Aufnahme-Richtlinie der EU infrage.

 Eine Frau mit ihrem Baby steht in einer Menge von Flüchtlingen, die in Griechenland Asyl fordern. Polizisten drängen sie zurück. Foto: dpa

Eine Frau mit ihrem Baby steht in einer Menge von Flüchtlingen, die in Griechenland Asyl fordern. Polizisten drängen sie zurück. Foto: dpa

Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte erst am Donnerstagabend bekannt gegeben, dass die Bundesrepublik angesichts der "unzulänglichen griechischen Praxis" vorerst keine Bewerber mehr zurückschicken werde. Auch Island, Schweden, Großbritannien und Norwegen haben inzwischen ihre Abschiebungen ausgesetzt. Der griechische Innenminister Christos Papoutsis kündigte am Freitag an, sein Land wolle die nächsten Monate nutzen, um die Lage der Flüchtlinge und die Sicherheit an den Grenzen zu verbessern. Die bisher vorliegenden Ideen stoßen in der EU allerdings auf strikte Ablehnung. Athen will entlang der Grenze zur Türkei einen undurchlässigen Zaun errichten und Asylbewerber auf Schiffen im Mittelmeer festhalten.

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