"Ein völlig normaler Vorgang" Graben zwischen Arm und Reich wächst weiter

Der Graben zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden. Auf die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte entfielen 53 Prozent (Stand: 2008, neuere Zahlen liegen nicht vor) des gesamten Nettovermögens. 1998 lag die Quote bei 45 Prozent. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. 2003 waren es drei Prozent

 Der Streich-Minister? Wie viele Oppositions-Politiker kritisieren auch Aktivisten in Berlin, Wirtschaftsminister Rösler habe im neuen Armuts- und Reichtumsbericht entscheidende Passagen ändern lassen. Foto: Nietfeld/dpa

Der Streich-Minister? Wie viele Oppositions-Politiker kritisieren auch Aktivisten in Berlin, Wirtschaftsminister Rösler habe im neuen Armuts- und Reichtumsbericht entscheidende Passagen ändern lassen. Foto: Nietfeld/dpa

Der Graben zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden. Auf die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte entfielen 53 Prozent (Stand: 2008, neuere Zahlen liegen nicht vor) des gesamten Nettovermögens. 1998 lag die Quote bei 45 Prozent. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. 2003 waren es drei Prozent. Von 2007 bis 2012 hat sich das Gesamtvermögen der Haushalte trotz der Finanzkrise um weitere 1,4 Billionen Euro erhöht.

Die "Armutsgefährdungsschwelle" liegt nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bei 952 Euro im Monat. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16 Prozent der deutschen Bevölkerung. Hauptgrund für Armut ist Arbeitslosigkeit. Auch für Alleinerziehende ist das Risiko hoch.

Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg und lag zuletzt zwischen 21 und 24 Prozent. Im Jahr 2010 waren 7,9 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Die Niedriglohngrenze liegt bei 9,15 Euro pro Stunde.

Nur 2,6 Prozent der über 65-Jährigen sind derzeit auf Grundsicherung im Alter angewiesen.

Die Arbeitslosigkeit sank in Deutschland im Berichtszeitraum auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen reduzierte sich zwischen 2007 und 2012 von 1,73 Millionen auf 1,03 Millionen oder um mehr als 40 Prozent. In der EU weist Deutschland aktuell die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aus - begünstigt von der Hartz-IV-Gesetzgebung: Seit 2005 müssen Langzeitarbeitslose auch schlecht bezahlte Jobs annehmen. Die Ausweitung von Niedriglohnsektor und atypischer Beschäftigung (Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, Minijobs) ging laut Bericht jedoch nicht zulasten von Normalarbeitsverhältnissen.

Beim Bildungsniveau, das für die Chancen im Arbeitsleben mitentscheidet, gab es ebenfalls Fortschritte: Zwischen 2006 und 2010 sank die Zahl der Schüler ohne Abschluss von acht auf 6,5 Prozent. dpa

Berlin. Ursula von der Leyen kann die Aufregung der letzten Wochen und Monate "über Halbsätze" nicht nachvollziehen: "Das war nicht gut für die Debatte, weil es den Inhalt dieses Berichts in den Hintergrund gedrängt hat." Die Bundesarbeitsministerin ist gekommen, um das zu korrigieren. Ihr geht es an diesem Mittwoch um die Inhalte des neuen Armuts- und Reichtumsberichts. 548 Seiten ist er dick, vollgepfropft mit Tabellen, Schaubildern und Texten. Um die Formulierungen und ihre Abänderungen dreht sich die von der Ministerin als eher kontraproduktiv empfundene Kritik. Ein ganz schweres Geschütz fährt SPD-Chef Sigmar Gabriel auf: "Nie zuvor hat eine Bundesregierung einen Bericht so dreist gefälscht", sagt er. Und das nur, um davon abzulenken, dass sie die Verantwortung für die wachsende Spaltung der Gesellschaft trage.

Von der Leyen kontert: Es sei eine "Mär", dass im Text massiv gestrichen worden sei. "Der größte Teil ist drin", sagt sie. Das gelte auch für den angeblich getilgten Satz, das Privatvermögen in Deutschland sei sehr ungleich verteilt. Der Satz stimme, stellt von der Leyen zunächst mal klar. Und die Feststellung sei keineswegs rausgefallen. Sie tauche nur an anderer Stelle auf. Nämlich auf Seite 343. Was die Ministerin nicht sagt: Der nach hinten gerutschte Satz bezieht sich nicht mehr auf Arm und Reich, sondern auf die Vermögensverteilung in Ost und West. Und er stand in der ursprünglichen Version nicht versteckt im hinteren Teil des Reports, sondern ganz prominent in der Einleitung.

Zum redaktionellen Eingriff kam es im Zuge der Ressortabstimmung: Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) fand, dass etliche Passagen nicht zur positiven Entwicklung der vergangenen Jahre passen: Er pochte darauf, dass sich das auch in dem Bericht wiederfinden müsse. "Wenn die Arbeitsministerin nicht damit einverstanden gewesen wäre, dann hätte sie der Entscheidung nicht zugestimmt. Denn es ist ja ihr Bericht", befand Rösler lapidar.

Nach der Kabinettssitzung, die dem Bericht nach der wochenlangen Verzögerung gestern dann grünes Licht gab, zeigt sich von der Leyen entspannt: Ressortabstimmungen gebe es seit 60 Jahren. "Das ist ein völlig normaler Vorgang." Wo also sei das Problem? Denn auch die von den Kritikern aufgespießten Themen - wie Zunahme von Teilzeitarbeit, befristeten Jobs oder Niedriglöhnen - stelle der Bericht "glasklar" dar.

Dass eine andere Aussage - nämlich die, dass eine ungleiche Entwicklung der Einkommen das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletze - nicht mehr im Bericht zu finden ist, deutet auf die Handschrift Röslers hin. "Der Satz ist richtig, das sehen wir auch in der Debatte über Managergehälter", hält von der Leyen dagegen.

Im Übrigen findet sie, dass die Verzögerung bei der Abfassung dem Bericht unterm Strich gedient habe: Es seien neue Erkenntnisse eingeflossen, etwa zur Entwicklung der Realeinkommen. Bei diesen sei die zunehmende Spreizung zwischen oben und unten zu Beginn des letzten Jahrzehnts "jetzt offensichtlich gestoppt". Fazit der Ministerin: "Ich kann jetzt nicht den Schleier darüberlegen, dass in den letzten Jahren sich Dinge verbessert haben."

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