Karl Marx Ein Tag wie kein anderer – Trier sieht rot

Trier · Hunderte Polizisten und Demonstranten, Tausende neugierige Zuschauer: Der 200. Geburtstag von Karl Marx ist für seine Heimatstadt an der Mosel zu einem historischen Ereignis geworden. Am Samstag wurde die umstrittene Statue enthüllt.

 Karl Marx in seiner ganzen Größe: 2,3 Tonnen schwer und 4,40 Meter groß ist die neue Statue am Simeonstiftplatz in Trier

Karl Marx in seiner ganzen Größe: 2,3 Tonnen schwer und 4,40 Meter groß ist die neue Statue am Simeonstiftplatz in Trier

Foto: dpa/Harald Tittel

In gelben T-Shirts stehen etwa 50 Falun-Gong-Anhänger auf dem Trierer Hauptmarkt in der Sonne. Die Augen geschlossen, selbstversunken, machen sie Meditationsübungen, die ihnen – so liest man auf einem Informationsschild – dabei helfen, ihre Energiekanäle zu öffnen und ihre göttlichen Fähigkeiten zu verstärken. Sie sind gekommen, um auf Verfolgung und Organraub hinzuweisen, die die Mitglieder der spirituellen Bewegung in China offenbar erleiden. Die traditionelle chinesische Musik ist durch den Lärm der Stadt kaum zu hören. Es ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Denn sie feiert den 200. Geburtstag ihres bekanntesten Sohnes, Karl Marx. Dank der Marktstände duftet alles nach Erdbeeren.

Hinter dem Spargel tauchen plötzlich Polizisten und AfD-Plakate auf. „65 Millionen Tote in China“, steht da. Oder: „Zwei Millionen Tote in Kambodscha“. Schweigend wollen die Demonstranten an die Opfer des Kommunismus erinnern und Marx, dessen riesiges Bildnis etwa eine Stunde später enthüllt wird, „vom Sockel holen“. Mehrere Hundert AfD-Anhänger waren angekündigt. Nur 70 sind erschienen. „Nazis raus! Nazis raus! Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“, brüllen junge Leute den Rechten über Birnen und Blumen hinweg zu, und plötzlich ertönen auch von der anderen Seite des Platzes laute Rufe von 150 Menschen, die bunte Fahnen schwenken.

„Passt auf, wir müssen uns aufteilen“, hatte ein Polizist ein paar Minuten zuvor im Befehlston zu seinen Kollegen gesagt – alle aus Nordrhein-Westfalen, alle in schwerer Montur mit Schlagstöcken und Schutzhelmen – und auf eine Karte gezeigt: „Wir müssen den Zulauf zum Hauptmarkt verhindern.“ Verhindern, dass das Bündnis gegen Rechts auf die AfD trifft. Das hat offensichtlich geklappt. Die Bunten kommen nicht an den Polizisten vorbei, die AfD marschiert weiter, die Menschen in den gelben T-Shirts meditieren, und das Kinderkarussell dreht sich in der Mitte des Platzes als wäre nichts.

Sektschlürfend schauen Trierer vom Weinstand aus dabei zu, wie sich alles Richtung Porta Nigra bewegt. Richtung Statue. Richtung Höhepunkt dieses Tages, der für Trier ein historischer ist.

„Genießer aller Länder vereinigt Euch“, steht auf der roten Fahne des Food-Trucks, der in Sichtweite der verhüllten Statue Kappes Teerdisch (Kartoffelbrei mit Sauerkraut) mit roter Trierer Fleischwurst anbietet. Auch sonst gibt es marxig rote Würstchen, Marx-Wein und sogar „Karl mag‘s“-Bier. Karl selbst steht noch in ein riesiges rotes Tuch gehüllt auf seinem fünfeckigen Steinsockel. Jede dieser Ecken, erklärt ein Rai-Reporter seinen italienischen Fernsehzuschauern, symbolisiert eine der fünf wichtigsten Stationen aus Marx’ Leben: Trier, Berlin, Hamburg (wo sein Verleger lebte), London und Paris. Warum der große italienische Sender aus Trier berichtet? „Marx war ja nicht irgendwer!“, sagt der Reporter. Er ist einer von vielen, die Marx an die Mosel gelockt hat.

Die Ideen des gebürtigen Trierers haben die Weltgeschichte verändert. Arbeiterbewegung, Sozialdemokraten, Kommunisten, Kommunarden, Ökonomen, Diktatoren haben sich auf ihn gestützt. Und China, das Trier diese monumentale Statue geschenkt hat, tut das noch immer. Auch dies ein Grund, warum an diesem Tag Menschen demonstrieren. Viele sehen es kritisch, dass Trier die Statue – wie Oberbürgermeister Wolfram Leibe betont – „als Geste der Freundschaft“ annimmt. Mancher fürchtet gar, die chinesische Staatspropaganda finde so ein Einfallstor in die Römerstadt.

Wegen Marx sei Trier bei Chinesen sehr beliebt, sagt Guo Weimin, Vizeminister des Presseamtes des chinesischen Staatsrates, hoher Vertreter der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. „Marx‘ Ideen sind ein kostbarer geistiger Reichtum.“ Der Marxismus habe das Schicksal des ganzen Landes geändert. Die kommunistische Partei verbinde ihn eng mit der chinesischen Praxis und führe das Volk so auf den Weg des Glücks. Der Parteitag habe kürzlich entschieden, stärker mit anderen Ländern der Welt zusammenzuarbeiten, „mit verschiedenen Ländern eine Solidargemeinschaft zu bilden“, sagt der Presse-Vizeminister. Und die Statue sei ein Symbol der deutsch-chinesischen Freundschaft. „Möge diese Freundschaft immer vital bleiben“, wünscht er, während 500 kommunistische und sozialistische Demonstranten ihre roten Fahnen schwenken und protestierendes Pfeifentrillern über die Köpfe der Zuschauer hinweg Richtung Statue schallt.

Rund 4000 Menschen sind gekommen, um im Sonnenschein zu verfolgen, wie jenes Denkmal enthüllt wird, über das Trier so lange und so heftig gestritten hat: Über Moralfragen, Standorte und jeden Zentimeter Höhe. 5,50 Meter ist das Denkmal nun groß, und die Chinesen freuen sich über diese Zahl. 5.5. Wie Marx‘ Geburtstag.

In einer einzigen eleganten Fließbewegung gleitet das rote Tuch von der kantigen Bronzestatue. Jubel brandet auf und der Applaus Tausender Menschen. Und da steht er. Der Marx, den Künstler Wu Weishan bei klirrender Kälte und mit höllischer Hitze geschaffen hat. Mit wallendem Haar, scharfem Blick, sicherem Schritt und einem Buch unterm Arm. Das Buch sei ein Symbol dafür, dass die Menschheit sich weiterentwickelt, sagt der Künstler, der den Trierern eine gute Zukunft wünscht – und dass sie „immer Sonnenschein im Herzen tragen“.

An einem Tag wie diesem fällt das nicht schwer. Bald schon spielt beim Bürgerfest am Simeonstiftplatz die erste Band. Vor den Museen, die nun über Leben, Zeit und Werk von Karl Marx informieren, bilden sich die ersten Schlangen. Und die Stadt ist wieder fast die alte. Eis schleckend schlendern Menschen beim Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone, wo der Kapitalismus blüht.

Am Hauptmarkt-Weinstand lassen Gisela Wagner und Gaby Arnold die Ergebnisse des Tages mit Freundinnen Revue passieren. „Das war schön. Eine ganz tolle Stimmung“, sagen sie. Vor allem jener Moment, in dem die Statue enthüllt wurde. Ein überwältigendes Ding. Und schön. „Ich habe Gänsehaut bekommen“, sagt Gisela Wagner. Für Trier sei das eine riesige Bereicherung und eine „absolute Werbeveranstaltung“. Die beiden freuen sich auf die Museen. Und auf das Rahmenprogramm mit seinen Hunderten Veranstaltungen. Auch Friedhelm Schneider vom nahegelegenen Kiosk Hauptmarkt ist überzeugt, dass all das sehr positiv für die Stadt ist.

Die Falun-Gong-Anhänger stehen noch immer selbstversunken meditierend inmitten des Erdbeerduftes der Marktstände. Nur mancher Obsthändler ist nicht so glücklich. Wegen der vielen Demonstranten, die am Spargel vorbeiliefen, sind weniger Käufer als üblich nach Trier gekommen. Aber gut, Marx‘ Geburtsstadt hat ja auch einen Tag erlebt, wie es ihn in einer kleinen Großstadt nur alle paar Jahrzehnte gibt.

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