Ein Pokal für eine ganze Nation

Norio Sasaki pflegt Pressekonferenzen im Stile eines unaufgeregten Universitätsdozenten abzuhalten. Mit feiner Zurückhaltung und gebotener Höflichkeit - ganz gleich, ob der Trainer der japanischen Frauen-Nationalmannschaft einen Sieg davongetragen oder eine Niederlage erlitten hat. Oder die Weltmeisterschaft gewonnen

Norio Sasaki pflegt Pressekonferenzen im Stile eines unaufgeregten Universitätsdozenten abzuhalten. Mit feiner Zurückhaltung und gebotener Höflichkeit - ganz gleich, ob der Trainer der japanischen Frauen-Nationalmannschaft einen Sieg davongetragen oder eine Niederlage erlitten hat. Oder die Weltmeisterschaft gewonnen. Es war erstaunlich in der Sonntagnacht, wie besonnen und bescheiden dieser Fußball-Lehrer über den hochdramatischen Sieg im Elfmeterschießen gegen die USA referierte, so aufgeräumt und so bodenständig wie immer: "Wir haben das auch getan für die Menschen in Japan." Sein Schlüsselsatz.Der 53-Jährige erzählte bei jeder Gelegenheit, dass es wegen des verheerenden Erdbebens in der Heimat bei diesem Turnier um mehr gegangen sein. "Wir wollten eine kleine Hilfestellung geben und ein bisschen Mut machen." So hat er sich vor den Spielen der emotionalen Triebfeder der Fukushima-Katastrophe bedient und seinen Auserwählten Sequenzen von explodierten Atomreaktoren, ausgelöschten Städten und verängstigten Menschen gezeigt. Die realen Schreckensbilder benutzte der kluge Mann als legitimes Motivationsmittel. "Das hat dazu geführt, dass kleine Mädels große Dinge erreichen können", sagte Sasaki bereits, als der asiatische Außenseiter den als Favoriten gehypten Gastgeber Deutschland aus dem Turnier katapultiert hatte. Und die nun als beste Spielerin und Torschützin des Turniers ausgezeichnete Homare Sawa beteuert, dass die Katastrophe den Kader zusammengeschweißt habe. "Ich spiele seit 18 Jahren in der Nationalmannschaft, ich habe schwierige Zeiten hier erlebt", berichtete die 32-Jährige nach dem WM-Endspiel, "aber das Beben, der Tsunami und Fukushima haben uns stärker gemacht." Und ihre Mutter erzählte fast zeitgleich dem japanischen Sender Fuji Television mit tränenerstickter Stimme: "Ich habe gefühlt, dass ganz Japan im Moment des Titelgewinns gelächelt hat."

Jede Nationalspielerin war mit ihrer eigenen Geschichte und Erinnerung nach Deutschland gekommen. Die flinke Aya Miyama, listige Torschützin im Endspiel, galt zeitweise als vermisst, ihr Haus in Chiba wurde beschädigt. Die resolute Aya Sameshima, tapfere Verteidigerin im Finale, stand bei dem aus Fukushima stammenden Verein Tepco Mareeze unter Vertrag, sie musste sich bei einem US-Team fit halten. In den Vereinigten Staaten fand kurioserweise auch das Trainingslager statt, weil wegen der radioaktiven Strahlung keine Testspiele in der Heimat ausgetragen werden konnten - der heimische Ligabetrieb ruhte, die Regierung rief außerdem zum Stromsparen auf, weshalb unter Flutlicht nicht gespielt werden durfte. Zweimal testete dieses gebeutelte Ensemble in der Vorbereitung gegen die US-Girls - und zweimal verloren die Japanerinnen mit 0:2.

Es mutet wie Ironie dieses Rührstücks an, dass die Japanerinnen ihr wichtigstes Spiel gegen diesen Gegner tatsächlich deshalb gewannen, weil sie sich jener Methoden bedienten, die eigentlich die Amerikanerinnen für sich gepachtet hatten: "never give up"- niemals aufgeben. Und doch bleiben sie bescheiden: Die Botschaft von Aya Miyama zur Verwendung der umgerechnet 13 340 Euro Siegprämie lautet: "Das lassen wir den Opfern in unserem Land zukommen." Die "Japan Times" schrieb nun von einem "märchenhaften Abschluss, der das ganze Volk beflügeln" werde. Mit solchen Erwartungen ist die Mannschaft - anders als die deutsche - wahrlich meisterhaft umgegangen, "wir haben es ausgehalten, dass so viele Menschen auf uns geschaut haben", insistierte der sichtlich bewegte Trainer Sasaki, "und dabei haben wir einen eigenen Standard entwickelt". Eine versierte Technik, ein ausgeklügeltes Kombinationsspiel - und ein mächtiges Herz sind die Attribute der in den Heldenstatus gerückten Fußballerinnen.

Mit der bedeutungsschweren Vermischung dieses sportlichen Erfolgs als moralische Hilfe für die Erdbebenkatastrophe hat niemand ein Problem, weswegen die Spielerinnen nach dem furiosen Finale in der Frankfurter Arena ein letztes Mal ihr Dankesplakat entrollen und Sasaki auch dies noch widerspruchslos in den Raum stellen durfte: "Die Leute haben uns diese Kraft und diesen Mut gegeben. Deshalb konnten wir gegen das große Amerika das Herz in beide Hände nehmen."

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