Ein Leben im Kampf um Gerechtigkeit

Gerechtigkeit war ihm wichtig. Wer je mit Marcel Reich-Ranicki beruflich und persönlich zu tun hatte, weiß das.

 Die Frau seines Lebens: Teofila lernte Marcel Reich-Ranicki 1940 in Warschau kennen, sie heirateten zwei Jahre später im Ghetto. „Tosia", wie er sie nannte, starb im Frühjahr 2011. Fotos: Rössler/dpa; Elsner/dpa

Die Frau seines Lebens: Teofila lernte Marcel Reich-Ranicki 1940 in Warschau kennen, sie heirateten zwei Jahre später im Ghetto. „Tosia", wie er sie nannte, starb im Frühjahr 2011. Fotos: Rössler/dpa; Elsner/dpa

 TV-Klassiker: „Das literarische Quartett“ – hier 1991 – mit Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek, Ulrich Greiner und Marcel Reich-Ranicki (von links).

TV-Klassiker: „Das literarische Quartett“ – hier 1991 – mit Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek, Ulrich Greiner und Marcel Reich-Ranicki (von links).

Wer als Mitarbeiter eine Rezension einreichte, hatte sie auch zu rechtfertigen. Dann saß man im Vorzimmer des "Literaturpapstes" und war ein wenig klamm. Wurde man hineingerufen, war klar, dass Reich-Ranicki die Besprechung gründlich studiert hatte. Er fragte, warum man für oder gegen einen Autor und dessen Buch schrieb. Er, der viele Verrisse, aber noch mehr wohlwollende Kritiken verfasst hatte, wollte eine genaue Begründung. Fand er sie stichhaltig, sagte er "Mein Lieber . . ." und klopfte einem auf die Schulter. Fiel man mit seinem Text durch, lernte man schon mal den gefürchteten Choleriker kennen. Deutschlands berühmtester Literaturkritiker war hoch geachtet und gefürchtet zugleich. Jetzt ist seine Stimme für immer verstummt. "MRR" starb gestern im Alter von 93 Jahren. Im März dieses Jahres hatte er seine Krebs-Erkrankung öffentlich gemacht.

Gerechtigkeit prägte Reich-Ranickis ganzes Leben. Das zeigt sein Erinnerungsbuch "Mein Leben", in viele Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft und fürs Fernsehen verfilmt. Der 1920 in Wloclawek an der Weichsel geborene Sohn eines Geschäftsmanns hat das gerechte Leben stets gesucht. 1929 durfte er auf Drängen seiner deutschen Mutter nach Berlin, 1938 legte Reich-Ranicki dort sein Abitur ab und wurde wegen seiner jüdischen Abstammung nicht zum Studium zugelassen. Er war zornig darüber, empfand das als zutiefst ungerecht. Bald darauf deportierten ihn die Nazis nach Polen.

Überlebender des Holocaust

Er lebte ab 1940 im Warschauer Ghetto, war für die Verwaltung als Übersetzer tätig und nahm 1943 an einer Widerstandsaktion der jüdischen Kampforganisation gegen die Nazis teil, die ihn das Leben hätte kosten können. Er lernte Teofila kennen, als sich deren Vater kurz zuvor aus Verzweiflung erhängt hatte. 1942 heiratete er Tosia, wie er sie nannte. Beide tauchten in den Untergrund ab, sie überlebten den Holocaust. Seine Eltern und sein Bruder wurden ermordet, auch die Schwiegermutter. Im Keller, in dem er mit seiner Frau versteckt war, las er vor allem deutsche Schriftsteller.

Nach dem Krieg trat er der Kommunistischen Partei Polens bei. Nie wieder Faschismus, das war damals die prägende Parole. Doch wieder wurde sein Empfinden für Gerechtigkeit gestört. Die Partei schickte den Vielsprachler nach Berlin und dann als Konsul nach London. 1949 schied Reich-Ranicki aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst.

1958 gelang der Wechsel in die Bundesrepublik, in kurzer Zeit war er eine bekannte Größe in der Gruppe 47 und im Literaturbetrieb. Scharfsinnig, laut, klar in seinen Aussagen. Das gefiel nicht allen. "Die Zeit", für die er 1960 bis 1973 rezensierte, brachte zwar gern seine Beiträge, bot ihm aber nie eine Anstellung an und lud ihn nicht zu Redaktionskonferenzen ein. Wieder war sein Gerechtigkeitsempfinden beschädigt worden.

1973 wurde er zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" berufen, er übernahm die Literaturredaktion und leitete sie bis zu seiner Pensionierung 1988. Im selben Jahr begann die Büchersendung "Das literarisches Quartett" im ZDF. Bis 2001 wurden in 77 Sendungen rund 400 Bücher besprochen - und oft zu Bestsellern gemacht. Des Kritikers fuchtelnder Zeigefinger, sein leichtes Lispeln und die etwas krächzende, aber durchdringende Stimme waren Markenzeichen, die oft auch parodiert wurden. Natürlich brauchte "MRR", der sich immer virtuos in Szene zu setzen wusste, auch Sparringspartner: Im "Quartett" waren dies Hellmuth Karasek, die Reich-Ranicki wenig zugetane Sigrid Löffler - zum Schluss durch Iris Radisch ersetzt - und ein wechselnder Gast.

Kein Freund von Floskeln

Reich-Ranickis Urteil war oft hart, gelegentlich unfair. Verquaste Floskeln waren nicht sein Ding. Er schrieb, wie er sprach: direkt und unverblümt, aber rhetorisch geschliffen. Mit seinen Kritiken schuf er sich Feinde und Freunde fürs Leben. Hass schlug ihm entgegen, Neid sowieso. Zu seinem 90. Geburtstag erklärte er: "Es gibt in diesem Beruf keine Dankbarkeit." Aber er litt nicht darunter, nur wenn Autoren ihm die Freundschaft kündigten. Er sei ohnehin immer ein Außenseiter gewesen, gab er einmal zu. Ehrungen und Preise und die neunmalige Würde als Ehrendoktor ließen ihn nie vergessen, woher er kam und dass er überlebt hatte.

Marcel Reich-Ranicki war nicht uneitel, wohl auch nicht treu, denn er wusste zeitlebens "manch schönes Äuglein" (Goethe) an Frauen zu schätzen und hat das im Alter auch zugegeben. Dennoch war Teofila die Frau seines Lebens, er hat in ihren schweren Depressionen zu ihr gehalten. Es war aber gut, dass sie vor ihm ging. Oft ist er konservativ genannt worden. Das nahm er hin, solange damit gemeint war, dass er die wichtigsten Epochen der deutschen Literatur hochhielt: "Die Klassik und vor allem die Romantik", befand er. Als die großen Themen der Literatur bezeichnete er zwei: die Liebe und den Tod. Wenn man damit Zeit seines Lebens, vor allem im Alter, nicht allein sei, mache das "manches ein wenig leichter". Auch das hielt er für gerecht.

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