Ein Land im freien Fall

Mexiko-Stadt. Wer hoch fliegt, kann tief fallen. In etwa so müssen sich Mexikos Regierung und Wirtschaftselite derzeit fühlen. Denn das Land, das noch vor wenigen Jahren als Erfolgsmodell für Lateinamerika galt, ist zum Sorgenfall geworden: Organisierte Kriminalität, Korruption und fehlende Strukturreformen in Schlüsselbranchen lähmen die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas

Mexiko-Stadt. Wer hoch fliegt, kann tief fallen. In etwa so müssen sich Mexikos Regierung und Wirtschaftselite derzeit fühlen. Denn das Land, das noch vor wenigen Jahren als Erfolgsmodell für Lateinamerika galt, ist zum Sorgenfall geworden: Organisierte Kriminalität, Korruption und fehlende Strukturreformen in Schlüsselbranchen lähmen die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas. 1994 wurde Mexiko als erstes Land der Region Mitglied der OECD. Im gleichen Jahr trat das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada in Kraft. Mexiko schien die Etappe des Schwellenlandes im Galopp zu überspringen. Im Jahr 2000, gerade war der Freihandelsvertrag mit der EU in trockenen Tüchern, hatte es Mexiko unter die zehn größten Volkswirtschaften der Welt geschafft. Und Ende 2006 verstieg sich Präsident Felipe Calderón zu der Behauptung, sein Land werde spätestens 2050 zu den Top Fünf der Weltwirtschaft gehören. Die Landung in der Realität war hart. Heute ist Mexiko auf den 14. Platz zurückgefallen, mit dem Land verbinden sich Begriffe wie Drogenkrieg, gescheiterter Staat und fehlende Flexibilität. Der Überflieger auf dem Kontinent ist längt Brasilien, das nach Einschätzung von Experten in ein paar Jahren Frankreich und Großbritannien verdrängen und zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigen wird. Brasilien boomt, Mexiko lahmt. Zuletzt gehörte das Land zu den Schlusslichtern beim Wachstum in Lateinamerika. 2009 brach das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gar um 6,5 Prozent ein. Die einseitige Ausrichtung auf die USA war daran vor allem Schuld. Aber auch die ausbleibenden Reformen des Energiesektors, die fehlende Überarbeitung des Steuersystems und des Arbeitsrechts bremsen die Konjunktur. Und gerade jetzt stellten die Korruptionswächter von Transparency International dem Land das schlechteste Zeugnis in zehn Jahren aus. Mexikos Politiker und Beamte sind demnach noch bestechlicher als die in Guatemala, El Salvador oder Jamaika. Als wäre all das noch nicht genug, um Wachstum zu bremsen, setzt dem Land die entfesselte Gewalt der Drogenkartelle jeden Tag mehr zu. Sie hat längst die Wirtschaft erreicht. Ex-Finanzminister Agustín Carstens schätzte bereits vor zwei Jahren, dass die Kosten der Gewalt das Land jährlich rund zehn Milliarden Dollar kosten würden. Dies entspricht einem Prozent des BIP-Wachstums. 30 000 Tote seit 2007Seither hat Mexikos Ruf in der Welt weiter gelitten, weil fast täglich jemand Opfer der Mafia-Pistoleros wird. Der Krieg der Kartelle um Routen und Reviere untereinander und gegen den Staat hat seit 2007 mehr als 30 000 Menschen das Leben gekostet. Im Norden, an der Grenze zu den USA, bekriegen sich die Kartelle besonders hat. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft bleiben nicht aus. Im Bundesstaat Nuevo León gingen die Direktinvestitionen dieses Jahr nach Angaben des Industrieverbandes Canacintra um ein Viertel zurück. Nuevo León ist mit seiner Hauptstadt Monterrey das industrielle Zentrum Mexikos. Hier hat zum Beispiel Cemex, einer der drei größten Baustoffkonzerne der Welt, seinen Sitz. Das Weltwirtschaftsforum veröffentlichte Ende September eine Untersuchung zur Wettbewerbsfähigkeit, in der Mexiko vom 60. auf den 66. Platz zurückfiel. Der Grund: die Auswirkungen der Organisierten Kriminalität. Die Unternehmensberater von Deloitte registrierten zeitgleich eine Verschlechterung der Investitionsbedingungen um 150 Prozent im ersten Halbjahr 2010. Ursache auch hier: Gewalt und Kriminalität. Vor allem in Nuevo León und im angrenzenden Tamaulipas ist der Lkw-Transport inzwischen zu einem Vabanque-Spiel geworden. "Hier sind Autobahnen von 20 bis acht Uhr Hoheitsgebiet der Drogenkartelle", sagt Carlos Ross, deutscher Konsul in Monterrey. Weiter westlich in Ciudad Juárez ist die Situation besonders schlimm. Nach Schätzungen haben in den vergangenen zwei Jahren zehntausend Geschäftsleute in der Wüstenstadt aufgegeben. Ciudad Juárez ist eine der tödlichsten Städte der Welt mit 2000 Mordopfern jährlich. Internationale Unternehmen, darunter auch deutsche, bringen ihre Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen inzwischen hinter der Grenze im texanischen El Paso unter. Die rund 1000 deutschen Unternehmen, die in Mexiko vertreten sind und sieben Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes beitragen, halten die Füße noch still. "Hier ist noch keiner wegen der Gewalt oder des Drogenkriegs weg", versichert Giselher Foeth, Vize-Geschäftsführer der Deutsch-Mexikanischen Handelskammer Camexa. Das liege auch daran, dass die Unternehmen in der Regel nicht direkt betroffen seien, sondern die Organisierte Kriminalität Sicherheits- und Transportkosten erhöhe. Der Chemiekonzern BASF unterhält in Altamira im Bundesstaat Tamaulipas eine große Anlage zur Kunststoffherstellung. An ein Weggehen denke der Konzern nicht, sagt Sprecher Frank Zeller. "Trotz erhöhter Ausgaben für Sicherheit ist Altamira weiter eine äußert wettbewerbsfähige Betriebsstätte." Der Automobilzulieferer Bosch, der in Ciudad Juárez Elektronik-Teile herstellt, redet die Gefahr in der Stadt herunter. "Wir haben in unseren zwei Fabriken die gleichen Sicherheitsstandards, die wir in der ganzen Welt haben", betont Sprecher Marco Antonio Quero. "Für uns ist Ciudad Juárez ein Standort wie jeder andere." Auch Siemens denkt nicht daran, Fabriken zu schließen. Die Deutschen bleiben vorerst, aber es ist schwer, neue Investoren zu begeistern. "Jedes Gespräch, das wir mit Interessenten führen, dreht sich um Sicherheit", sagt Camexa-Mann Foeth. "Jedes Gespräch, das wir mit Interessenten führen, dreht sich um Sicherheit." Giselher Foeth, Vize-Chef der Deutsch-Mexikanischen Handelskammer

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