Ein Land geht auf die Straße

Die Schulen blieben geschlossen. In den Krankenhäusern fanden nur Notoperationen statt. Ämter und Behörden waren zu. In weiten Landesteilen ruhte der öffentliche Verkehr. Fahrprüfungen fielen aus, Bibliotheken und Museen waren dicht und in den Krematorien konnten keine Einäscherungen stattfinden. Großbritannien erlebte den größten Streik seit Generationen

 "No cuts - keine Kürzungen": Gegen geplante Einschnitte bei den Renten und die Anhebung des Rentenalters auf 66 Jahre gingen gestern hunderttausende britische Beamte auf die Straße. Foto: Rain/dpa

"No cuts - keine Kürzungen": Gegen geplante Einschnitte bei den Renten und die Anhebung des Rentenalters auf 66 Jahre gingen gestern hunderttausende britische Beamte auf die Straße. Foto: Rain/dpa

Die Schulen blieben geschlossen. In den Krankenhäusern fanden nur Notoperationen statt. Ämter und Behörden waren zu. In weiten Landesteilen ruhte der öffentliche Verkehr. Fahrprüfungen fielen aus, Bibliotheken und Museen waren dicht und in den Krematorien konnten keine Einäscherungen stattfinden. Großbritannien erlebte den größten Streik seit Generationen. Zwei Millionen Angehörige des öffentlichen Dienstes traten für 24 Stunden in den Ausstand.Sie protestierten damit gegen die Reformpläne der Regierung zu den Pensionen im öffentlichen Dienst. Diese sehen eine Anhebung der Beiträge zwischen 1,5 und 5 Prozent vor. Zudem wird das Eintrittsalter für die Rente auf 66 Jahre erhöht, so dass ein Jahr mehr eingezahlt werden muss. Die Pension wird sich nicht mehr an dem letzten Einkommen orientieren, sondern am Durchschnitt der Bezüge im Arbeitsleben. Die Gewerkschaften behaupten, dass der öffentliche Dienst überproportional unter dem radikalen Sparkurs der Regierung leiden muss. Die Haushaltsrede des Schatzkanzlers am Vortage hatte den Streik noch mehr angeheizt, weil George Osborne für die nächsten Jahre für den öffentlichen Dienst nur Gehaltserhöhungen von ein Prozent in Aussicht stellte. Zudem kam die Gewissheit, dass an die 750 000 Arbeitsplätze gestrichen werden.

Im ganzen Land fanden während des Streiks Demonstrationen und Kundgebungen statt. "Die Leute müssen zuschauen, wie ihre Pensionen dafür benutzt werden, Schulden zu bezahlen, die sie nicht gemacht haben", sagte die 25 Jahre alte Lori Malone, die vor dem britischen Parlament demonstrierte. "Wir sind heute hier, um der Regierung klarzumachen, dass sie die Öffentlichkeit nicht als Sündenbock nehmen können."

Scheinbar ungerührt bezeichnete Premierminister David Cameron die Aktion als "feuchten Knallfrosch". Sein Schatzkanzler George Osborne blieb dabei, dass die Rentenreform unumgänglich sei, um das Königreich vor dem "Schuldensturm" zu retten. Angesichts der drohenden Rezession und dem ansteigenden Lebensalter könne es sich Großbritannien nicht mehr leisten, dem öffentlichen Dienst Pensionen zu garantieren, von denen die in der Privatwirtschaft tätigen Briten nur träumen können. Osborne forderte die Gewerkschaften auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Streiks brächten nichts, weil einfach kein zusätzliches Geld zu verteilen sei. "Dieses Land muss einige harte Maßnahmen treffen, um mit seinen Schulden fertig zu werden", sagte Osborne im Sender BBC. Daher seien Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst unverzichtbar. Osborne hatte am Dienstag weitere harte Jahre mit geringem Wirtschaftswachstum für Großbritannien vorhergesagt. Im laufenden Haushaltsjahr 2011/2012 müssten zudem 127 Milliarden Pfund (149 Milliarden Euro) neue Schulden aufgenommen werden. Die Regierung verurteilte die Streiks, weil sie der ohnehin geplagten Wirtschaft weitere Ausfälle bescherten und Arbeitsplätze gefährdeten.

Doch der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes Brendan Barber sprach bereits davon, dass dieser Streik durchaus der Auftakt für einen langen und bitteren Arbeitskampf sein könnte. Der Labour-Oppositionsführer Ed Miliband billigte zwar nicht offiziell den Streik, zeigte aber Verständnis für die Aktion, die durch das Versagen der Regierung ausgelöst wurde. Die Rentenreform würde wieder die Leute mit niedrigen Einkommen besonders treffen.

Während vor allem berufstätige Eltern unter den geschlossenen Schulen litten, blieb das befürchtete Chaos auf den Flughäfen aus. Die streikenden Angestellten der Grenzkontrolle wurden durch Mitarbeiter aus den Ministerbüros ersetzt - und so kontrollierte selbst der Pressesprecher der Regierung die Pässe in Heathrow. "Es braucht harte Maßnahmen, um mit den Schulden fertig zu werden."

Schatzkanzler George Osborne

Meinung

Kein gutes Omen

Von SZ-MitarbeiterHendrik Bebber

Protestmärsche durch die weihnachtlich geschmückten Straßen verdrängen bei vielen Briten die Vorfreude aufs Fest. Bange Erinnerungen an den "Winter der Unzufriedenheit" steigen auf, als der wochenlange Streik des öffentlichen Dienstes vor 34 Jahren das Königreich ins Chaos stürzte. Die meisten Briten sind zu der Einsicht gekommen, dass die fetten Jahre vorbei sind. Doch das erhöht nicht gerade die Zufriedenheit mit dem drakonischen Sparkurs der konservativ-liberale Koalition. Bislang hat der harte fiskalische Kurs der Regierung keine Wirkung gezeigt. Ganz im Gegenteil: Das Wirtschaftswachstum sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Und die Prognosen der Experten sind noch düsterer als die für die krisengeschüttelte Eurozone. Großbritannien wird hoffentlich nicht wieder unter Müllbergen versinken wie vor 34 Jahren. Aber wie seinerzeit die Labour-Regierung von James Callaghan vom Unmut der Bürger hinweggefegt wurde, ist der erste große Streik nach Generationen für die konservativ-liberale Koalitionsregierung kein gutes Omen. Ihre Popularität sank so rapide wie die Wirtschaftsdaten.

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