Prozess in ungarn Ein Kühllaster mit 71 toten Flüchtlingen

Kecskemet · Die Leichen in dem Lkw in Österreich erschütterten 2015 die Welt. Jetzt stehen die Schlepper vor Gericht. War es kaltblütiger Mord?

 Unter schwerer Bewachung und in Handschellen werden die Angeklagten im Schlepperprozess im Gericht in Ungarn vorgeführt.

Unter schwerer Bewachung und in Handschellen werden die Angeklagten im Schlepperprozess im Gericht in Ungarn vorgeführt.

Foto: dpa/Georg Hochmuth

(dpa) Fünf Stunden arbeitet sich Staatsanwalt Gabor Schmidt durch die Anklageschrift. Punkt für Punkt fügt sich dabei ein erschreckendes Bild der organisierten Schleuser-Kriminalität im Flüchtlingssommer 2015 zusammen. Verängstigte Asylsuchende werden zu Dutzenden in die engen, schlecht belüfteten Laderäume von altersschwachen Lastwagen und Sprintern getrieben. Schwangere Frauen verlieren während dieser Höllen-Trips das Bewusstsein. Notärzte müssen Migranten versorgen, die endlich in Österreich oder Deutschland angekommen sind. Die Opfer „erleiden bedeutende körperlich-seelische Qualen“, formuliert es der Staatsanwalt im nüchternen juristischen Ton.

Und einmal, am 26. August 2015, sterben 71 Menschen. Im Laderaum eines Kühllasters ersticken sie qualvoll, weil sie keine Luft bekommen. Erst nach mehr als 24 Stunden finden sie österreichische Polizisten am Autobahnrand bei Parndorf im Burgenland. Gestern, fast zwei Jahre danach, stehen die mutmaßlichen Verantwortlichen vor Gericht.

Im Justizpalast des an Jugendstilbauten ungewöhnlich reichen Städtchens Kecskemet, 100 Kilometer südlich von Budapest, werden am Mittwochmorgen zehn Männer vorgeführt. Elf sind angeklagt, einer von ihnen ist noch flüchtig. Sie alle sollen Mitglieder einer Schleuserbande gewesen sein, die 2015 rund 1200 Migranten nach Österreich und Deutschland geschmuggelt hat. Vier von ihnen – ein Afghane, der mutmaßliche Kopf der Bande, und drei Bulgaren – sollen die Todesfahrt des Kühllasters von Parndorf organisiert und durchgeführt haben.

L.S., der Anführer, war vor ein paar Jahren selbst als Flüchtling nach Ungarn gekommen. Der 30-Jährige bekam einen Geduldeten-Status, lebte in Budapest mit einer Ungarin zusammen. Das Flüchtlingsjahr 2015 begriff er für sich als Chance, das große Geld zu machen. Mit kriminellen Methoden, wie nun klar zu werden scheint. Gestern gibt er sich, im Hemd in den Farben der afghanischen Fahne, als der kampfeslustigste im Saal: Die Gerichtsdolmetscherin könne nicht ordentlich Paschtu, seine Muttersprache, behauptet er. Diese, selbst eine gebürtige Afghanin, weist das erbost von sich. Richter Janos Jadi nimmt das alles zur Kenntnis und lässt Staatsanwalt Schmidt seine Anklageschrift verlesen.

Die Beschuldigungen, die sie enthält, sind stark. L.S., der Anführer, sein bulgarischer Stellvertreter G.M.I., der bulgarische Fahrer des „Todes-Lkws“ I.N.S. und der Bulgare T.V.B., der als „Späher“ fungierte – er fuhr dem Laster voran und achtete auf mögliche Polizeikontrollen –, hätten den Tod der 71 Menschen wissentlich in Kauf genommen, ja sogar gewollt.

Staatsanwalt Schmidt geht ausführlich darauf ein, was und zu welchem Zeitpunkt die Angeklagten während der Todesfahrt am Mobil-Telefon besprochen haben sollen. Er sagt nicht explizit, dass diese Gespräche von der ungarischen Polizei abgehört wurden. Aber aus dem Kontext ist das klar. Außerdem hatte ein Recherche-Verbund deutscher Medien in der vergangenen Woche Auszüge aus eben diesen Gesprächsprotokollen veröffentlicht.

Schmidt fasst die Erkenntnisse zusammen, die die Anklage aus den Aufzeichnungen der Telefonate gewonnen hat. I.N.S., der Fahrer, habe mehrfach gehört, wie die Menschen vor Verzweiflung schrien und an die Wände schlugen. Er habe die anderen beiden Bulgaren, T.V.B. und G.M.I., telefonisch immer wieder darauf aufmerksam gemacht. L.S. habe aber an die Bulgaren die strikte Weisung erteilt, in keinem Fall stehen zu bleiben und die Ladetür zu öffnen. Der Staatsanwalt: „In einem der Telefonate sagte L.S. in aufgewühltem Ton, dass die Leute im Lastwagen sterben mögen. Der Fahrer solle sie dann einfach irgendwo in Deutschland abladen.“

 Als die österreichischen Polizisten den parkenden Lkw im August 2015 bei Parndorf öffneten, offenbarte sich ihnen ein Bild des Grauens.

Als die österreichischen Polizisten den parkenden Lkw im August 2015 bei Parndorf öffneten, offenbarte sich ihnen ein Bild des Grauens.

Foto: dpa/Hans Punz

Die Staatsanwaltschaft sieht darin den Tatbestand des mehrfachen Mordes unter grausamen Umständen erfüllt. Den Fahrer klagt sie deshalb der Begehung dieses Verbrechens an, die anderen drei der Anstiftung dazu.

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