Ein Kampf um neue Spielregeln"Das Schlimmste steht noch bevor"

Gaza/Tel Aviv. Eine Woche lang hatte Israel den militanten Palästinensern im Gazastreifen mit einer Bodenoffensive gedroht - am Samstagabend machte die Armee ihre Drohung wahr. Politiker sowie hochrangige Militärs versichern unisono, dass es nicht um eine Rückeroberung des Palästinensergebietes mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern gehe

Gaza/Tel Aviv. Eine Woche lang hatte Israel den militanten Palästinensern im Gazastreifen mit einer Bodenoffensive gedroht - am Samstagabend machte die Armee ihre Drohung wahr. Politiker sowie hochrangige Militärs versichern unisono, dass es nicht um eine Rückeroberung des Palästinensergebietes mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern gehe. Die israelische Armee will nach offizieller Lesart jene Gebiete unter Kontrolle bringen, aus denen in der vergangenen Woche rund die Hälfte aller Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen wurde. Die Bodenoffensive bedeutet für Israel und die radikalislamische Hamas ein hohes Risiko, weil Erfolg oder Misserfolg über die neuen Spielregeln einer künftigen Waffenruhe entscheiden.Gut 16 500 gut ausgebildete Soldaten soll die Hamas unter Waffen haben. Ihre Miniarmee ist im Städte- und Straßenkampf ausgebildet. Scharfschützen und Selbstmordattentäter warten bereits. "Gaza wird für Euch kein Picknick. Gaza wird für Euch zum Friedhof", wandte sich Hamas-Sprecher Ismail Radwan nach dem Einmarsch an die israelischen Soldaten. Zuvor hatte bereits Hamas-Politbürochef Chaled Maschaal erkennen lassen, worum es der Hamas geht: "Ihr Soldaten der Besatzungsmacht müsst begreifen, dass auf Euch das dunkle Schicksal von Tod, Verletzung und Gefangennahme wartet". In den ersten 24 Stunden seit dem Einmarsch sind nach Armeeangaben 30 Soldaten verletzt worden, davon zwei schwer. Ein weiterer Soldat schwebt nach Angaben eines Sprechers in Lebensgefahr. Warum hat die Bodenoffensive jetzt begonnen? Mit den acht Tage währenden Luftschlägen wollte Israel die militanten Palästinensergruppen eigentlich zwingen, den Raketenbeschuss israelischer Städte aufzugeben. Vergeblich: Seit dem 27. Dezember schlugen bis Samstag mehr als 450 Raketen auf israelischem Boden ein. Vier Israelis wurden getötet. Die Reichweite der Hamas-Raketen ist zwischenzeitlich bis auf 40 Kilometer gestiegen. Jetzt sind nach Polizeiangaben rund eine Million von 7,3 Millionen Israelis durch die Raketen gefährdet, statt der 125 000 vor Beginn der Militäroffensive. Mit der Bodenoffensive will die Armee jetzt dem Beschuss weitgehend einen Riegel vorschieben, einen vollständigen Stopp nennt sie unrealistisch. Nach den Worten des amtierenden Ministerpräsidenten Ehud Olmert sollen jene Gebiete im Gazastreifen unter Kontrolle gebracht werden, aus denen in den vergangenen acht Tagen die meisten Raketen abgefeuert wurden. "Wir haben keine Absicht, den Gazastreifen wieder zu besetzen", sagt ein hochrangiger Militär. Der Einsatz werde aber "nicht in Stunden oder Tagen" vorbei sein. Die israelische Regierung geht ein großes Risiko ein. Nach einer Umfrage der Tageszeitung "Maariv" unterstützen zwar 85 Prozent der Befragten die laufende Militäroffensive, aber nur 41,8 Prozent befürworteten eine Bodenoffensive. Dazu kommt, dass am 10. Februar in Israel ein neues Parlament gewählt wird. Der Ausgang der Militäroffensive dürfte damit wahlentscheidend werden. Die wichtigste Frage sei jetzt, ob die Armee der Hamas genug Schaden zufügen kann, damit die ihre Forderungen für einen Waffenstillstand herunterschraubt, oder ob die Armee sich im Gazastreifen festläuft, tausende Palästinenser tötet, selbst hohe Verluste erleidet und am Ende die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung verliert, analysiert die "Haaretz". Das Maximalziel der Hamas lautet: Stopp der Militäroperation, Ende der Blockade des Gazastreifens und Öffnung aller Grenzübergänge. Israel will nach Medienberichten eine langfristige Waffenruhe vereinbaren und Garantien erhalten, dass die Waffenpause eingehalten wird.Gaza. Seit gut einer Woche sitzt die Familie von Dr. Said Abdelwahed in ihrer Wohnung in der Stadt Gaza fest. Die sechs Kinder im Alter von zwölf bis 19 Jahren trauen sich nicht vor die Tür. Die meiste Zeit verbringt die Familie in einem Zimmer, von dem sie glauben, es sei das sicherste. "Selbst meine großen Töchter, die beide schon studieren, wagen sich nicht allein aus dem Raum, wenn sie zur Toilette müssen." Die Mädchen gehen zu Zweit oder zu Dritt und leuchten sich nachts gegenseitig den Weg mit einer selbstgebauten Taschenlampe. Strom gab es seit acht Tagen schon nicht mehr.Ein kleiner Generator für den der Universtitätsdozent für englische Literatur nur noch "wenig Diesel" hat, sorgt für den notwendigen Strom, um sich im Radio oder per Internet über die aktuellen Entwicklungen informieren zu können oder die Batterien der Telefone aufzuladen, wobei rund 90 der Handys im Gazastreifen nach den ersten Luftangriffen auf verschiedene palästinensische Kommunikationsfirmen ohnehin nicht mehr funktionieren. Viel schwieriger als die Entbehrungen sei jedoch, die große Angst auszuhalten. "Gestern Nacht wurde Gaza im 30-Sekunden-Takt bombardiert", berichtet Siad, "und das über 20 Stunden lang". Dabei kann die Familie noch froh sein, dass sie nicht unmittelbar im Grenzbereich wohnt, wo es bislang zu den meisten Opfern kam. "Hier im Stadtzentrum finden noch keine heftigen Kämpfe statt." Sehr viel gefährlicher ist die Lager für einen Freund der Familie, dessen Haus von Soldaten umzingelt ist. Fünf Angehörige trugen bereits Verletzungen davon. Um den dauernden Stress seiner Kinder zu lindern, spricht der Dozent viel mit ihnen und berichtet über seine eigenen Erfahrungen während des Sechs-Tage-Krieges 1967. Vor allem der zwölfjährige Sohn sei seit Beginn der israelischen Angriffe traumatisiert. Dr. Siad wollte den Jungen vom Bus abholen, als zwei Gebude in seiner unmittelbaren Nähe "mit zehn Bombardierungen zum Einsturz gebracht wurden". Dabei seien fünf Passanten zu Tode gekommen, darunter offenbar auch ein Kind. "Es ist das erste Mal, dass mein Sohn einen Menschen sterben sieht", berichtet der Dozent. "Der Lärm einer F16 ist höllisch. Mein Sohn kann seither nicht mehr schlafen."Siad geht davon aus, dass das Schlimmste noch kommt. Wenn die Soldaten durch die Gassen ziehen und Nahkämpfe stattfinden werden, dann müssten noch viel mehr Tote befürchtet werden. Unterdessen gehen die Vorräte der Familie dem Ende entgegen. Die acht Personen in seinem Haushalt ernähren sich von "wenig Reis und Konserven, Thunfisch und Sardinen". Problematisch ist besonders der Mangel an frischem Wasser. Niemand im Gazastreifen traue sich, ein offenes Wort gegen die Führung der Hamas zu sagen. Die Leute werden es nie zugeben, wenn sie Hamas für die Misere mitverantwortlich hielten. "Es ist klar, dass unser Feind Israel ist."

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