Ein großer deutscher Denker

Saarbrücken · Philologe, Romanautor, Rhetoriker, Literatur- und Fernsehkritiker: Es gab kaum ein intellektuelles Feld, auf dem Walter Jens nicht brillierte. Am Sonntag ist der große Denker im Alter von 90 Jahren gestorben.

Mit manchen Menschen verbindet man persönliches Erleben, was dann tiefer geht als nur Gelesenes. Mir geht es so mit Walter und Inge Jens. Rund zehn Jahre ist das her. Nach langer Lesereise kamen die beiden mit ihrem späten Bestseller "Frau Thomas Mann" auf dem platten Land, in Leer, an. Kein Hörsaal stand zur Verfügung. Bloß der Multifunktionsraum eines Berufsbildungszentrums. Jeder Satz von Walter und Inge Jens wäre an diesem Abend in Stein zu meißeln gewesen. Zwei Gelehrte saßen da, damals schon Repräsentanten einer leider vergehenden Bildungsbürgerzeit, die, obwohl selbst Geistesgrößen, mit Ehrfurcht über die Manns sprachen. Über "Tommy" und "Katia" - so viel Vertraulichkeit gestatteten sie sich dann doch.

Dass ein solch' intellektueller Leseabend selbst in der ostfriesischen Provinz ein Ereignis für 500 Zuhörer werden konnte, lässt sich nur damit erklären, dass Walter Jens über Jahrzehnte eine moralische Institution Deutschlands war. Oft gefragt und allzeit redebereit - vor allem in der alten Bundesrepublik. Kunst, Politik, Gesellschaft: Der Alt-Philologe, für den man in Tübingen eigens einen Rhetorik-Lehrstuhl maßfertigte, kann mühelos von antiken Göttermythen zu zentralen Fragen der BRD kommen.

Zunächst aber macht sich der am 8. März 1923 in Hamburg Geborene als Romanautor bekannt. Seine frühen Bücher werden nie Verkaufsschlager. Dazu sind sie zu komplex. Das Nachdenken über Literatur ist bei Jens, der sich 26-jährig bereits in Tübingen habilitiert, Teil des Schreibens. Die Bücher des schlaksigen Hanseaten aber machen Eindruck bei der Gruppe 47, diesem intellektuellen Nukleus der alten Bundesrepublik. Grass, Böll, Walser sind dabei. Sie sehen sich auch als Vertreter einer Geistesrepublik Deutschland, die Adenauers Politik oft auch von oben herab kritisiert. Und bohrt, wenn man die Nazi-Zeit nur behäbig aufarbeitet. Umso beschämender wie Jens selbst mit seiner Vergangenheit verfährt, als 2003 offenbar wird, dass er der NSDAP angehörte. Erst streitet er ab, dann plädiert er auf Vergesslichkeit, bis er zugesteht, nicht entschieden genug mit sich selbst ins Gericht gegangen zu sein.

Walter Jens ist auch einer der wirkmächtigsten Literatur- und TV-Kritiker Deutschlands. Oft im geistreichen Wechselspiel mit Marcel Reich-Ranicki. Später können die beiden nicht mehr miteinander. "Freundfeind" nennt Wolf Biermann mal das späte (Un-)Verhältnis der beiden. Anders als Reich-Ranicki aber hat Jens so viel mehr als "nur" die Literaturkritik, mit der er wirken kann. Jens scharfe Zunge macht vor niemandem halt. Vor keinem Kanzler, keinem Präsidenten, nicht mal vor dem Papst. In seinem 2001 erschienen Band "Der Teufel lebt nicht mehr, Mein Herr" nimmt sich der überzeugte Protestant auch das Papsttum vor.

Vor allem im Deutschland Willy Brandts, als endlich ein freierer Geist durchs Land weht, glänzt Jens, hält Reden, publiziert, ist intellektueller Star einer Epoche - aber auch Oberlehrer der Nation. Er und seine Frau werden später auch zu Leitfiguren der Friedensbewegung. Selbst die Sitzblockaden 1984 vor dem US- Atomwaffendepot Mutlangen macht der Herr Professor mit. Während des ersten Golfkrieges versteckt er desertierte US-Soldaten. "Kommunist", beschimpft ihn der ewige Kanzler Helmut Kohl. Jens, der sich selbst "Radikaldemokrat" nennt, nimmt's als Lob.

Im gewachsenen Deutschland nach 1989 weiß Jens aber nicht mehr auf jede Frage eine Antwort. Als Präsident der Berliner Akademie der Künste geht er zu leichtfertig mit in der DDR belasteten Autoren um. Und der grandiose Rhetoriker wird auch zum Gefangenen seiner Kunst. Seine Redemuster wendet er fast schon beliebig auf alles und jeden an - ob er über Luther oder mit Freund Otto Rehhagel über Fußball spricht. Von 2004 an verstummt der große Redner vollends. Jens leidet an der Krankheit, die die Erinnerung raubt. Sein Sohn Tilman schreibt 2009 das Buch "Demenz", das wichtig ist, weil es offen über diese Krankheit spricht. Zugleich aber ist es eine bittere Abrechnung mit dem Vater, der auch daheim in Tübingen alles besser wusste.

Walter Jens, der sich auch für aktive Sterbehilfe einsetzte, sagte mal: "Nicht mehr schreiben zu können, heißt für mich, nicht mehr atmen zu können. Dann ist es Zeit zu sterben." Hätte man ihn beim Wort genommen, dieser Nachruf wäre längst geschrieben worden.Geboren wurde Walter Jens am 8. März 1923 in Hamburg; sein Vater war Bankdirektor, die Mutter Lehrerin. Von 1941 bis 1945 studierte Jens Klassische Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg. Mit der Schrift "Tacitus und die Freiheit" wurde er 1949 habilitiert. Im Jahr 1950 feierte er seinen Durchbruch als Schriftsteller mit dem utopischen Roman "Nein. Die Welt der Angeklagten".

Jens war unter anderem Mitglied der legendären Schriftstellervereinigung "Gruppe 47". Diese bot insbesondere jungen Schriftstellern nach dem Zweiten Weltkrieg eine Plattform; die Treffen dienten der Textkritik und der Förderung junger Autoren. Jens machte dort die zeitgenössische deutsche Literatur zum Gegenstand akademischer Betrachtung.

1951 heiratete Jens die Literaturwissenschaftlerin Inge Puttfarcken. An der Universität Tübingen war Jens von 1956 bis 1988 Professor für Klassische Philologie und baute dort den bislang bundesweit einzigen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik auf. Jens war von 1976 bis 1982 Präsident des bundesdeutschen Pen-Zentrums und führte in seiner Amtszeit als Präsident der Akademie der Künste zu Berlin west- und ostdeutsche Intellektuelle zusammen.

Nicht nur als akademischer Lehrer, sondern auch nach seiner Emeritierung 1988 mischte sich Jens immer wieder in aktuelle politische Debatten ein: Er protestierte gegen die Stationierung von Pershing-Raketen und gewährte US-Soldaten Unterschlupf, die im Zweiten Golfkriegs 1990 desertierten. Mit dem katholischen Tübinger Theologen Hans Küng verfasste der Protestant 1995 das Buch "Menschenwürdig sterben", in dem sich beide für aktive Sterbehilfe unter gewissen engen Voraussetzungen aussprachen.

2003 wurde seine Mitgliedschaft als junger Mann in der NSDAP bekannt. 2004 zog sich Jens wegen seiner Demenzerkrankung aus der Öffentlichkeit zurück.

2009 und 2010 erscheinen die umstrittenen Bücher von Sohn Tilman Jens: "Demenz. Abschied von meinem Vater" und "Vatermord".

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