Edward gegen Goliath

Sagt Edward Snowden die Wahrheit, ist die Realität noch viel haarsträubender als alle Vorstellungen. Nicht genug, dass der US-Geheimdienst NSA ein weltumspannendes Netz geknüpft hat, das alles und jeden überwachen kann.

Offenbar vertraut die Abhörbehörde den Generalschlüssel zu dieser Welt auch noch einer Menge von Leuten an.

Snowden, heute 29, war nicht einmal waschechter NSA-Mitarbeiter, sondern bei einer externen Beratungsfirma angestellt und stationiert auf Hawaii. Ein High-School-Abbrecher mit einfacher IT-Ausbildung, kein gestandener Geheimdienst-Analyst. Und dennoch hätte Snowden nach eigenen Worten sogar die private E-Mail-Adresse des US-Präsidenten ausspionieren können, von der eines Bundesrichters ganz zu schweigen. Wie viele solcher Snowdens gibt es noch in der Schattenwelt der NSA?

Der 29-jährige Techniker lieferte die geheimen Unterlagen für die jüngsten Berichte über ein massenhaftes Abgreifen von Nutzerdaten bei amerikanischen Internetfirmen. "Sie haben keine Ahnung, was alles möglich ist", sagt er in dem Interview mit dem "Guardian", in dem er sich zum Geheimnisverrat bekannte. "Die NSA hat eine Infrastruktur aufgebaut, die ihr erlaubt, fast alles abzufangen." Einen Journalisten der "Washington Post" warnte Snowden, der Geheimdienst würde diesen "mit ziemlicher Sicherheit töten", wenn dadurch die Enthüllungen gestoppt werden könnten. "Für mich gibt es keine Rettung", fügte er hinzu.

Solche Sätze hört man meistens entweder in Filmen oder von Leuten, die schnell als Verschwörungstheoretiker abgetan werden. Doch Snowden wirkt in dem Video des "Guardian"-Interviews nicht wie ein Spinner. Der blasse junge Mann mit Brille und Dreitagebart spricht bedächtig, präzise und unaufgeregt. Und er hat für seine Glaubwürdigkeit ein hohes Pfand hinterlegt: sein Leben. Würde sich jemand mit den Geheimdiensten der mächtigsten Weltmacht anlegen, nur um kurz im Rampenlicht zu stehen? Ganz abgesehen davon, dass er nach eigenen Worten eine Freundin auf Hawaii, seine Familie in den USA und ein sicheres Einkommen von 200 000 Dollar im Jahr zurückgelassen hat.

Die Geschichten, die Snowden erzählt, könnten direkt aus einem Spionage-Roman stammen. Da ist zum Beispiel die prägende Episode aus seiner CIA-Zeit in der Schweiz um 2007. Ein Geheimdienstler ermutigt einen Banker, der zur Kooperation überredet werden soll, betrunken Auto zu fahren. Nachdem der Bankmanager von der Polizei erwischt wird, hilft ihm der CIA-Mann. Schon ist ein besonderer Draht entstanden, der Bankier wird schließlich angeworben. Solche Erlebnisse hätten ihn desillusioniert, sagt Snowden.

Auch die Flucht nach Hongkong gehört in einen Agentenfilm. Snowden kopiert die letzten Dokumente, meldet sich krank, sagt seiner Freundin nur, dass er für ein paar Wochen verreist und steigt ins Flugzeug. In Hongkong verschanzt er sich in einem Hotelzimmer und tippt dem "Guardian" zufolge aus Angst vor Kameras selbst dort seine Passwörter in sein Notebook nur unter einer Decke ein. Verlässt er das Zimmer, stellt er eine Flasche Sojasoße hinter die Tür - damit ein unvorsichtiger Besucher Spuren hinterlässt. Sein Schritt aus der Anonymität dürfte da als eine Art Lebensversicherung kalkuliert sein.

Denn die Tragweite von Snowdens Vorwürfen ist enorm: Stimmt seine Darstellung von einem nahezu grenzenlosen Aufsaugen der weltweiten Kommunikationsdaten, wären die ganzen sorgsam formulierten Dementis der US-Regierung und der Internet-Konzerne auf einen Schlag bedeutungslos. Welchen Unterschied macht schließlich die Feinheit, ob der US-Geheimdienst "direkt" auf Server von Google oder Facebook zugreifen kann, wenn sowieso alles unterwegs abgefangen wird? Die US-Behörden wiesen am Wochenende wieder jeden Gesetzesverstoß zurück.

Einer der berühmten Vorgänger, Daniel Ellsberg, der Anfang der 70er Jahre mit den "Pentagon-Papieren" eine geheime Analyse zur US-Rolle in Vietnam an die Öffentlichkeit brachte, bezeichnete Snowden sofort als "Helden". Dem 29-Jährigen selbst ist bewusst, dass seine Aktion einen Schönheitsfehler hat: Er floh nach Hongkong, das letztlich im Einflussbereich Pekings liegt. "Ich denke, es ist wirklich tragisch, dass ein Amerikaner an einen Ort gehen muss, dessen Ruf ist, weniger Freiheit zu haben."Das "Coming Out" des Informanten über die geheimen Spähprogramme der NSA, Edward Snowden, ist einzigartig. Nie zuvor trat einer freiwillig an die Öffentlichkeit, der kurz zuvor Staatsgeheimnisse an die große Glocke gehängt hatte. Besonders, wenn er sich einen so mächtigen Gegner ausgesucht hat. Doch Snowden will sprechen. Und - solange er noch in Freiheit ist - eine öffentliche Debatte über die Grenzen des Überwachungsstaats auslösen. Klar, die NSA hat streng nach dem Gesetz, also dem Patriots Act und anderen Anti-Terrorgesetzen, gehandelt. Doch hat die Regierung die massive Datensammlung und Überwachung des Internet- und Telefonverkehrs vor der Bevölkerung versteckt. Und deshalb warnt Snowden zurecht vor den Gefahren des Aufbaus einer Infrastruktur, die missbraucht werden könnte. Auf große Gegenliebe darf der junge Mann in den USA allerdings nicht hoffen. Schon Caesar wusste, dass man den Verrat liebt. Den Verräter aber verachtet.

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