Die zweite Atom-Revolution in neun MonatenKnackpunkte des schwarz-gelben Atomausstiegs

Berlin. Die Kanzlerin nannte es "Revolution", der FDP-Chef eine Entscheidung von "geradezu epochaler Bedeutung". Die Rede ist nicht etwa vom Atomausstieg, sondern - ganz im Gegenteil - von der erst vor neun Monaten beschlossenen Laufzeitverlängerung. Am Ende hielt die "Epoche" bis zum 11

Berlin. Die Kanzlerin nannte es "Revolution", der FDP-Chef eine Entscheidung von "geradezu epochaler Bedeutung". Die Rede ist nicht etwa vom Atomausstieg, sondern - ganz im Gegenteil - von der erst vor neun Monaten beschlossenen Laufzeitverlängerung. Am Ende hielt die "Epoche" bis zum 11. März, als ein Erdbeben mehrere Kernschmelzen im japanischen Fukushima auslöste. Die Katastrophe stellte alles auf den Kopf. Statt längerer Laufzeiten bis 2036 soll nun bis 2022 der letzte Meiler seinen Dienst einstellen. Wieder wird nicht an Superlativen und Eigenlob gespart. Von Stolz ist die Rede, Umweltminister Norbert Röttgen (CDU, Foto: dpa) sagt: "Das ist ein gesellschaftliches Pionierprojekt und ein Meilenstein."

Grüne hadern noch mit sich

Erneut sitzt Röttgen nach einer wegweisenden Kabinettsentscheidung zur Energiepolitik am Montag in der Bundespressekonferenz. An seiner Seite wie damals im September Bauminister Peter Ramsauer (CSU), neu dabei ist Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP). Ramsauer betont, er müsse kein Jota von seinen Reden der letzten 15 Jahre zur Energiepolitik zurücknehmen. Da müssen Röttgen und Rösler schmunzeln. Gerade die CSU ist eher plötzlich zum Atomgegner mutiert - mit dem grün-roten Baden-Württemberg gibt es jetzt ein Wettrennen, wer die AKW schneller abschaltet.

Der wichtigste Teil des Gesetzespaketes ist die Änderung des Atomgesetzes. Geplant ist die Sofortabschaltung der ältesten Kernkraftwerke Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser, Philippsburg 1 und des noch relativ neuen Pannenreaktors Krümmel. Gegen Klagen der Eigentümer glaubt sich Röttgen mit dem Argument gewappnet, diese Kraftwerke seien am schlechtesten gegen Flugzeugabstürze geschützt. Die übrigen Blöcke sollen bis 2022 vom Netz.

Interessant ist, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) um jeden Preis die SPD und am besten auch die Grünen beim Atomausstieg dabeihaben will. Röttgen sagt, das jahrzehntelange Kampfthema Kernenergie könne nun befriedet werden. Nach der Sommerpause soll das neue Atomgesetz bereits in Kraft treten. Doch die Grünen hadern weiter mit sich. Ihre umweltpolitische Sprecherin Bärbel Höhn zum Beispiel vermied gestern eine klare Stellungnahme, wie auch alle anderen Spitzen-Grünen. Endgültig wird erst am 25. Juni ein Sonderparteitag über die Haltung der Grünen entscheiden, kündigte Parteichefin Claudia Roth an.

Die FDP wurde düpiert

Es sagt viel über den Zustand der schwarz-gelben Koalition aus, wie die FDP zuletzt düpiert worden ist. Der Stufenplan zur AKW-Abschaltung war zwischen Röttgen und dem Kanzleramt bereits Mitte letzter Woche ausgeheckt worden, um so SPD und vor allem die Grünen ins Boot zu holen, die die Ausstiegspläne sonst wohl im nächsten Wahlkampf torpediert hätten. Als die Länder eine schrittweise Abschaltung forderten, ging Merkel ohne mit der Wimper zu zucken darauf ein. Auch Röslers Lieblingsprojekt eines Stand-by-AKW steht wohl schon wieder vor dem Aus. Merkel machte keinen Hehl daraus, dass sie dafür lieber Kohle- und Gaskraftwerke haben will.

Erstaunlich ist, wie dann am Wochenende Interna aus den jüngsten Atomgipfeln gestreut wurden, die Rösler und die FDP in keinem guten Licht erscheinen lassen. Als Rösler vorschlug, am Freitag einen Beamten zu einem schwierigen Sachverhalt referieren zu lassen, soll die Kanzlerin zur Erheiterung der Spitzenrunde entgegnet haben: "Hier tragen nur Minister vor, nicht Beamte."

Ob unter diesen Vorzeichen aus dem Energiepaket ein Meilenstein werden kann, muss sich zeigen. Rösler will die Bauzeit für eine Stromautobahn von zehn auf vier Jahre reduzieren. Das ist genauso fraglich wie der Punkt, ob bei bis zu 35 Prozent Ökostrom bis 2020 genug Speicher vorhanden sind, um die unstete Produktion von Wind- und Sonnenstrom auszugleichen.

Und dann sind da noch mögliche Klagen der Konzerne, wenn ein AKW abgeschaltet wird, aber eigentlich noch Strommengen übrig sind. Die Regierung hält das ganze Paket zwar für rechtssicher, doch die Energiekonzerne bringen ihre Juristen schon in Stellung. Vor allem Vattenfall gilt als Verlierer. Millioneninvestitionen sind futsch. Konzernchef Øystein Løseth erwartet einen finanziellen Ausgleich vom Bund. Am Ende könnten Gerichte ein gewichtiges Wort mitreden, wie teuer die neue grüne Stromwelt wird. Atomsteuer: Hier hat Eon bereits eine Klage eingereicht, RWE könnte sich anschließen. Trotz kürzerer Laufzeit beharrt die Regierung auf der Steuer, die bei neun verbleibenden AKW rund 1,3 Millionen Euro pro Jahr bringen soll. Die Konzerne sehen dadurch europäisches Wettbewerbsrecht verletzt, weil die Atomenergie einseitig diskriminiert werde.

Abschaltung: RWE hat Klage gegen die vorübergehende Abschaltung des Meilers Biblis im Zuge des Atommoratoriums eingereicht. Darüber ist noch nicht entschieden. Die Konzerne halten die Begründung der Abschaltung für fragwürdig, da sie mit dem Gefahrenabwehr-Paragrafen des Atomgesetzes begründet wurde, sich durch Fukushima an der Sicherheit aber nichts geändert habe.

Reststrommengen: Das ist der heikelste Punkt für die Regierung. Zwar dürfen die Konzerne von den stillgelegten Meilern Strommengen, die nun nicht mehr produziert werden können, auf die noch laufenden AKW übertragen. Aber was passiert, wenn bis zum jeweiligen Enddatum die Strommengen nicht produziert worden sind? Muss der Staat dann Entschädigungen zahlen? Die Konzerne prüfen bereits Klagen wegen möglicher Vermögensschäden.

Sonderfall Vattenfall: Nach dem Aus für die Vattenfall-Meiler Krümmel und Brunsbüttel könnten deren Strommengen eigentlich nur auf das AKW Brokdorf übertragen werden. An dem Eon-Meiler hat Vattenfall eine Minderheitsbeteiligung. Brokdorf würde gemäß der Strommenge bis etwa 2018 laufen, hinzu kommen nun aber womöglich Elektrizitätsmengen von rund 99 000 Gigawattstunden (GWh) aus Krümmel und Brunsbüttel. Pro Jahr können etwa 10 000 GWh pro AKW produziert werden, also hätte Brokdorf eine Laufzeit weit über 2021/2022 hinaus. Auch hier ist die Frage, ob Entschädigungen fällig sind. dpa

"Das ist ein gesellschaftliches Pionierprojekt und

ein Meilenstein."

Umweltminister

Norbert Röttgen

Hintergrund

Beim Abriss stillgelegter Atomkraftwerke könnten Probleme entstehen: Spezialfirmen wie die Energiewerke Nord aus Mecklenburg-Vorpommern sind bereits mit den laufenden Arbeiten stark ausgelastet, etwa beim Abriss der DDR-Atomkraftwerke. Auch in Westdeutschland werden unter anderem in Obrigheim, Stade und Mülheim-Kärlich seit Jahren Kernkraftwerke zurückgebaut. Die Rückstellungen der Konzerne unter anderem für den Abriss ihrer AKW betrugen 2010 knapp 28,7 Milliarden Euro. Pro Meiler sind mindestens 500 Millionen Euro zu veranschlagen. Ein Rückbau dauert mehr als zehn Jahre. dpa

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