Die Zornigen träumen von einer Revolution

Kiew · Ein brutaler Polizeieinsatz gegen friedliche EU-Befürworter bringt das Fass zum Überlaufen: In Kiew geht das Volk auf die Straße. Erzwingen die prowestlichen Ukrainer den Sturz der Regierung von Präsident Janukowitsch?

"Revolution!", rufen weit mehr als 100 000 Menschen, vielleicht sogar Hunderttausende, aus vollem Hals in Kiew. Und: "Die Bande soll ins Gefängnis!" Viele Ukrainer sind mit ihrer Geduld am Ende. Wut auf Präsident Viktor Janukowitsch, Wut auf die Regierung treibt sie auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Hauptstadt, und auf die Straßen Dutzender weiterer Städte in der Ex-Sowjetrepublik. Aber auch die Wut über schlechte Lebensumstände, über hohe Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit.

Nach dem Scheitern der Annäherung an die Europäische Union sind Zornige und Enttäuschte aus dem ganzen Land nach Kiew gekommen. Der letzte Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen gebracht hat: ein brutaler Polizeieinsatz gegen junge Menschen, die friedlich auf dem Maidan für einen Westkurs demonstrierten.

Der 41-jährige Bauarbeiter Ruslan Podgorny ist mit seiner Frau Olga aus einer Kleinstadt bei Kiew angereist. "Anständige Leute würden nach diesem Polizeieinsatz zurücktreten", sagt er entrüstet. Ihre zwei Töchter waren nur durch Zufall nicht unter den Demonstranten am Samstagmorgen, als eine Abteilung der Sondereinheit "Berkut" (Steinadler) mit Knüppeln die Menschen auseinandertrieb und Dutzende verletzte. "Wir sind hier, um unsere Kinder zu schützen", sagt Olga Podgorny.

Unter dem wolkenverhangenen Himmel über Kiew ertönt Trommelwirbel im zentralen Taras-Schewtschenko-Park. Zehntausende Menschen versammeln sich mit EU-Fahnen und selbst gefertigten Plakaten. Viele haben Aufkleber auf ihren Jacken: "Ich gehe nicht weg vom Maidan, bis Janukowitsch zurückgetreten ist." Der Platz ist einmal mehr das Symbol gewaltiger Proteste - neun Jahre nach der erfolgreichen prowestlichen Orangenen Revolution 2004 um die derzeit inhaftierte Julia Timoschenko.

Die Erzieherin Daissija steht mit einer ukrainischen Flagge auf der Kundgebung. "Ich will den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen", sagt die 36-Jährige. Ihre eigens aus der westlichen Großstadt Lwiw angereiste Freundin Jelena stimmt ihr zu. Eine neue Regierung müsse dringend das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, das Janukowitsch beim Ostpartnerschaftsgipfel in Vilnius abgelehnt hatte. "Es geht um die Zukunft unserer Kinder", sagt Jelena.

Angeführt vom Oppositionspolitiker und Boxweltmeister Vitali Klitschko zieht der riesige Demonstrationszug ins Zentrum. Voran wird eine überdimensionale ukrainische Flagge getragen. Eine dichte Polizeikette schützt das Lenin-Denkmal kurz vor der Flaniermeile Kreschtschatik. Die knapp 50 Polizisten müssen sich Schmähungen anhören. Gegenstände fliegen in ihre Richtung, aber schnell stellen sich Demonstranten dazwischen. Doch nahe der Präsidialkanzlei eskaliert die Lage am Nachmittag.

Mit einem Traktor drohen Demonstranten, eine Polizeikette und Absperrungen zu überrollen. Wieder sind "Berkut"-Leute im Einsatz, sie schießen Tränengassalven auf die Protestierer. Es gibt Verletzte. Die Oppositionsführer wie Klitschko betonen: alles Provokateure. Sie wissen, dass Gewalt der Forderung nach einem Rücktritt Janukowitschs und seines Regierungschefs Nikolai Asarow schadet, die "den europäischen Traum der Ukraine zerstört" hätten.

Der Präsident soll sich auf seine Residenz zurückgezogen haben. Zu Wort meldet er sich nur kurz am Morgen, als er wieder einmal sein vorläufiges Nein zur EU-Annäherung rechtfertigt. Die Ukraine dürfe keinen wirtschaftlichen Nachteil erleiden, teilt er mit. Zu groß ist noch der Druck des Nachbarlandes Russland. Dann widmet sich Janukowitsch demonstrativ seinen Amtsgeschäften: Er gratuliert dem Schweizer Präsidenten Ueli Maurer zum Geburtstag.Die Ex-Sowjetrepublik Ukraine versucht seit ihrer Unabhängigkeit 1991 den Spagat zwischen Moskau und dem Westen. Der nach Russland zweitgrößte Flächenstaat Europas ist politisch gespalten in den mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden sowie den überwiegend ukrainischsprachigen Westen. Präsident Janukowitsch hatte am Freitag auf dem EU-Gipfel zur Östlichen Partnerschaft nach Druck Russlands die Unterschrift unter ein Assoziierungsabkommen mit der EU verweigert. Die EU will die Tür für Kiew jedoch offen halten. Einige Gründe, warum das Land für die EU wichtig ist:

Freihandel: Das Abkommen sieht die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine vor. Der Markt ist für europäische Unternehmen interessant, es leben dort gut 45 Millionen Menschen.

Grundrechte: Die EU hat ein Interesse daran, dass in ihrer Nachbarschaft Grundrechte geachtet werden. Die Union pocht - bisher erfolglos - auf die Freilassung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko.

Energie: Das Abkommen sieht im Energiebereich eine enge Zusammenarbeit vor. Die Ukraine ist das wichtigste Transitland für russisches Erdgas in die EU. Nach einem "Gaskrieg" 2009, als auch im Westen Wohnungen kalt blieben, schloss der russische Energiemonopolist Gazprom mit der Ukraine Verträge mit hohen Preisen ab, die das verarmte Land eigentlich nicht stemmen kann.

Stabilisierung: Die Ukraine braucht finanzielle Hilfe vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der jedoch Bedingungen stellt. Im Falle einer IWF-Hilfe ist auch die EU zu Zahlungen bereit, laut Diplomaten könnten es bis zu 600 Millionen Euro sein. Die EU gab der Ukraine seit 1990 bisher 3,3 Milliarden Euro.

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