Die zerrissene Stadt

Brüssel. Die Metro-Station "Schuman" liegt an diesem Dienstagmorgen verwaist da. Normalerweise halten um diese Zeit die Brüsseler Untergrund-Bahnen im Minutentakt, tausende von EU-Beamten und Besucher steigen am Sitz der Europäischen Kommission aus. Doch heute ist alles still, eine schwarze Fahne hängt an der Wand

 Schweigemarsch in Brüssel für den getöteten Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Foto: dpa

Schweigemarsch in Brüssel für den getöteten Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Foto: dpa

Brüssel. Die Metro-Station "Schuman" liegt an diesem Dienstagmorgen verwaist da. Normalerweise halten um diese Zeit die Brüsseler Untergrund-Bahnen im Minutentakt, tausende von EU-Beamten und Besucher steigen am Sitz der Europäischen Kommission aus. Doch heute ist alles still, eine schwarze Fahne hängt an der Wand. "Was da passiert ist, trifft uns alle", sagt ein Mitarbeiter der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe STIB.Der Tod des 56-jährigen Kollegen Iliaz Tahiraj am Samstag, der eine Frau und vier Kinder hinterlässt, hat die EU-Metropole tief getroffen. 400 Polizisten mehr will Innenministerin Joëlle Milquet jetzt einstellen. Bisher sind 120 Beamte für die Bahnen, Metros und Bussen zuständig. 50 weitere Sicherheitsbeamte sollen bei STIB angestellt werden. "Ja, wir rüsten auf", kündigte die Politikerin am Sonntagabend an. Schon bisher wurden Fahrkartenkontrolleure in Brüssel von Polizisten mit schweren Waffen begleitet. Nun soll es noch martialischer werden.

Dabei ist der Fall vom Oster-Wochenende nur die Spitze des Eisbergs. 2010 wurden 773 Passagiere in öffentlichen Nahverkehrsmitteln oder an Haltestellen angegriffen. 193 Mitarbeiter der Betriebe mussten nach Attacken im Krankenhaus behandelt werden. "Das Maß ist überschritten", sagt der Metro-Fahrer Jean Reminiens (43). Das ist es schon lange. Wer in Brüssel lebt, weiß, dass man abends nicht allein zu einem Geldautomaten gehen, im Auto keine Tasche offen auf dem Beifahrersitz legen und nach 21 Uhr nicht mehr mit dem Bus fahren sollte. Bestimmte Untergrund-Bahnhöfe in den Problem-Vierteln meidet man besser. "Es gibt eine neue Qualität der Straßenkriminalität in Brüssel", hieß es in einem Aktenvermerk der deutschen Vertretung bei der EU vor drei Jahren. "Bin gestern überfallen worden", "Fahren Sie abends nur noch Taxi" - solche Hinweise und Ratschläge findet man in den einschlägigen Foren des Internets, in denen sich deutsche Diplomaten, Mitarbeiter und Korrespondenten austauschen. Bei Raub, Einbruch und Überfällen liegt Brüssel mit deutlichem Vorsprung an der europäischen Spitze. Alle 31 Sekunden passiert in dieser Stadt, die genau genommen aus 19 Einzelgemeinden besteht, eine Straftat gegen Leib, Leben oder Eigentum.

Jetzt soll alles besser werden. Zum Paket, das Innenministerin Milquet den STIB-Beschäftigten vorgelegt hat, gehört auch eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren. Daran mag niemand so richtig glauben, weil harte Urteile das Problem nicht ändern würden. Die hohe Kriminalität ist ein Ergebnis der Parallelwelten, die die Stadt regelrecht zerreißen. Auf der einen Seite das wohlhabende Brüssel, auf der anderen Seite die große Zahl von Zuwanderern aus arabischen Ländern, die sich häufig aller Integration verschließen und nicht selten ums Überleben kämpfen. Da erscheint die mit hochmodernen Laptops und iPhones ausgestattete Welt der 35 000 EU-Beamten, 2500 Diplomaten, 26 000 Nato-Mitarbeiter und 1500 internationalen Korrespondenten wie ein Selbstbedienungsladen. 2007 wurde ein 17-Jähriger am internationalen Bahnhof Gare du Midi mit zwei Messerstichen ermordet, weil zwei Gleichaltrige seinen Musikplayer haben wollten. Vor wenigen Monaten kam es auf einem U-Bahnhof zu einer Schlägerei. Die Polizei rückte aus, geriet zwischen die Fronten. Derweil überfielen kriminelle "Kollegen" in aller Ruhe die Fahrgäste auf einem anderen Bahnsteig gleich nebenan. Die Prügelei war nichts als ein wohlüberlegtes Ablenkungsmanöver.

 Schweigemarsch in Brüssel für den getöteten Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Foto: dpa

Schweigemarsch in Brüssel für den getöteten Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Foto: dpa

Tatsächlich leidet Brüssel an den Folgen einer Einwanderungspolitik, die zunächst niederländisch liberal gehandhabt wurde, dann aber zu regelrechter Abschottung führte. Einzelne Stadtviertel werden abends nicht einmal mehr von der Polizei betreten. Unterschiedliche Kulturen prallen immer wieder aufeinander. Brüssels Transportministerin Brigitte Grouwels sieht nach der tödlichen Attacke vom Oster-Wochenende tiefere Wurzeln: "Der Anstieg der Aggressivität ist ein gesellschaftliches Phänomen, das jeden angeht."

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