Die Welt der SPD wird neu vermessen

Wer gestern die Nachrichtenkanäle im Fernsehen schaute, wurde Zeuge eines seltsamen Schauspiels. Im Bundestag erklärte SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel vor dem Hintergrund der laufenden Haushaltsberatungen, dass die Welt "gerade neu vermessen" werde. Kurz darauf wechselten die Livebilder nach Brüssel zur persönlichen Ankündigung von Martin Schulz , nicht noch einmal für den EU-Parlamentsvorsitz zu kandieren und stattdessen in die Bundespolitik zu gehen. Zumindest die Welt der Sozialdemokraten wird damit neu vermessen.

Gabriel und der SPD-Hoffungsträger Schulz sind eigentlich dicke Kumpel. Beide werden aber auch für die Kanzlerkandidatur gehandelt. Und dann ist da noch der Posten des Außenmisters, den Frank-Walter Steinmeier wegen der anvisierten Bundespräsidentschaft aufgeben muss. Er wolle künftig "von der nationalen Ebene aus für das europäische Projekt kämpfen", sagte Schulz in Brüssel. Das deutet zweifellos auf ein gewisses Interesse an der Steinmeier-Nachfolge hin. Und angeblich steht der Übernahme des Postens durch Schulz auch nichts mehr Wege. An der K-Frage scheiden sich jedoch weiter die Geister. Schulz verlor dazu in Brüssel kein Wort. Und Gabriel ließ über einen Sprecher lediglich erklären, dass die Partei weiter an dem zu Wochenbeginn bekräftigten Zeitplan festhalte, wonach die K-Frage Ende Januar auf einer Vorstandsklausur entschieden werde.

Ob diese Rechnung aufgeht, wird allerdings auch in den eigenen Reihen zunehmend bezweifelt. Viele erinnern sich an das Wahljahr 2013, als die Partei nach einer verpatzten Inszenierung Peer Steinbrück ins Rennen schickte, der am Ende nur mäßig erfolgreich war. Freilich gibt es auch die Einschätzung, dass der Entscheidungsdruck auf Gabriel wegen der jüngsten Ansage von Schulz gesunken ist. Denn wäre Schulz in Brüssel geblieben, hätte sich alle Welt auf eine Kanzlerkandidatur Gabriels fokussiert. Zur konkreten Ankündigung von Schulz, 2017 auf Platz 1 der Landesliste Nordrhein-Westfalen für den Bundestag zu kandieren, meinte der SPD-Chef nur: Die Entscheidung sei "eine schlechte Nachricht für Europa - und eine gute für Deutschland".

Ginge es nach den Umfragen, dann hätte Schulz als Merkel-Herausforderer die besseren Karten. Nach einer aktuellen Emnid-Erhebung glauben 42 Prozent, dass sich Schulz gegen die Amtsinhaberin durchsetzen kann. Nur 35 Prozent halten Gabriel für chancenreicher. "Ich kann mir Martin Schulz in vielen Spitzenfunktionen vorstellen, weil er eine große politische Erfahrung mitbringt. Da sehe ich auch keine Trennlinien zwischen europäischer und deutscher Politik", sagte der nordrhein-westfälische SPD-Abgeordnete Joachim Poß der SZ. Auch Elmar Brok (CDU ), Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, fand lobende Worte: Schulz verfüge über mehr internationale Erfahrung als viele andere Politiker, die bislang ins Amt des Außenministers gewechselt seien. Daher wäre er "eine gute Besetzung". Der Europäischen Volkspartei, in der Brok Mitglied ist, hat Schulz allerdings auch maßgeblich das Ende seiner EU-Karriere zu verdanken. Die Konservativen beanspruchen den Posten des Parlamentschefs im kommenden Jahr selbst.

Als Präsident hat Schulz es geschafft, das Parlament ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Er tritt häufig in Talkshows auf, weil er als wortgewaltiger Redner, der seine Wahrheiten anschaulich und pointiert auf den Punkt bringen kann, ein beliebter Gesprächspartner ist. Das dürfte ihm bei seiner Karriere in Deutschland zugutekommen. Merkel, so heißt es, schätze Schulz trotz aller Gegensätzlichkeit der Charaktere sehr.

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