Die Waisenkinder der Medizin"Jede Krankheit war zunächst einmal selten und unerforscht"

Brüssel. "Ich lief wie ferngesteuert durch die Gegend. Stefan war gerade erst ein Jahr alt und hatte schon Hautkrebs." Die Diagnose des Krankenhaus-Arztes, der die kleine "Warze" vom Nasenrücken des Kindes entfernt hatte, wirft Marianne (alle Namen geändert) schier um

Brüssel. "Ich lief wie ferngesteuert durch die Gegend. Stefan war gerade erst ein Jahr alt und hatte schon Hautkrebs." Die Diagnose des Krankenhaus-Arztes, der die kleine "Warze" vom Nasenrücken des Kindes entfernt hatte, wirft Marianne (alle Namen geändert) schier um. Doch dann kommt der Tag, an dem die Diagnose der Gewebeprobe vorliegt und der das Leben der kleinen Familie völlig auf den Kopf stellen wird: Stefan fehlt durch eine genetische Veränderung ein Enzym in den Hautzellen. Bei gesunden Menschen sorgt es für die Reparatur der Zellen, die durch UV-Licht geschädigt werden. Der kleine Junge leidet an XP (Xeroderma pigmentosum). Mariannes Sohn ist ein so genanntes Mondscheinkind.

Nur 50 andere in Deutschland sind betroffen, weltweit nur 2000. "Gehen Sie mit Ihrem Kind tagsüber nicht mehr nach draußen", rät ein Mediziner. "Geben Sie Ihre Tages-Jobs auf und arbeiten Sie nachts." "Ihr Kind wird nie einen Kindergarten besuchen können, ein Schulbesuch ist ausgeschlossen." Und: "Durch das Entfernen der Tumore lässt sich eine Entstellung des Patienten mit der Zeit nicht vermeiden."

Sie gelten als die Waisenkinder der Medizin, jene fast vier Millionen Bundesbürger (EU-weit sind es zwischen 27 und 36 Millionen), die an seltenen Krankheiten leiden. Seit einigen Jahren soll der 28. Februar an deren Schicksal erinnern. Wie nötig das ist, zeigte sich am gestrigen Dienstag, als EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou in Brüssel das Buch "Die Stimme von 12 000 Patienten", eine Studie über die Situation der Betroffenen, präsentierte. Mit wenig befriedigenden Ergebnissen. 67 Prozent der Patienten in Deutschland fehlt die dringend nötige psychologische Begleitung. 18 Prozent hatten entweder gar keinen oder nur einen erschwerten Zugang zu medizinischen Hilfen.

Von sozialen Folgen ganz zu schweigen: 16 Prozent der betroffenen Bundesbürger mussten umziehen, um näher am behandelnden Spezialisten zu leben. Jeder zweite Patient, der die Hilfe eines sozialen Dienstes in Anspruch nehmen wollte, ging leer aus. 18 Prozent wurden von einem Arzt abgelehnt.

"Wir müssen den Patienten mehr Gehör schenken", sagte die EU-Kommissarin gestern. Es fehlen Fortschritte in der Forschung, Spezialisten und geeignete Medikamente. 300 bis 700 Millionen Euro kostet die Entwicklung, Erprobung und Zulassung eines neuen Präparates - zu viel für eine Krankheitsgruppe, die gerade mal 3000 bis 5000 Patienten umfasst.

Unbezahlbare Medikamente

Anfang 2000 wurde die EU auf das Problem aufmerksam Erstmals erklärte sich Brüssel bereit, die Entwicklung eines Medikamentes zu finanzieren. Es ging um das Fabry-Syndrom. Zwei Jahre später lag es vor: Fabrazyme, zehn Stück als Trockensubstanz, kosteten bis vor kurzem 47 819,32 Euro. Die Packung hält fünf Tage, die Behandlung dauert ein Leben lang.

30 000 Krankheitsbilder kennt die Medizin, 6000 bis 7000 gelten als selten. Wie das Fabry-Syndrom, bei dem ein Enzym nicht ausreichend arbeitet und dadurch Ablagerungen in Organen und im Gewebe verursacht. Die Lebenserwartung ist auf 40 bis 50 Jahre begrenzt.

Inzwischen sind europaweit Netzwerke der Forscher wie der Betroffenen entstanden. Die Brüsseler Kommission hat die Bekämpfung seltener Krankheiten auf ihre Fahnen geschrieben. Vor drei Jahren sagte Industriekommissar Günter Verheugen "Förderungen für die Industrie, um deren Forschungsarbeit zu erleichtern", zu. Seither ist viel geschehen, aber offenbar längst nicht genug. Nur jeder vierte Betroffene in Deutschland wurde über den genetischen Ursprung der Erkrankung informiert. Und: 40 Prozent aller Patienten wurden am Anfang falsch diagnostiziert.

Acht Jahre nach der Diagnose "Mondscheinkind" besucht Stefan eine normale Schule und darf dank seines UV-Schutzes Fußball spielen. Geheilt ist er nicht. Aber so berichtet seine Mutter im Internet: "Schritt für Schritt haben wir uns aus dem Wahnsinn befreit." Einen UV-Schutzhelm hat die Familie selbst konstruiert, eine geeignete Spezialfolie machte man in Großbritannien ausfindig. Mit ihr wurden die Fenster im Haus und im Auto abgedichtet. "Ich wünsche mir", sagt seine Mutter, "dass mein Mondscheinkind ein so temperamentvolles, lustiges und vor allem mein liebes Sonnenkind bleibt."Wie würden Sie als Experte den Laien "seltene Krankheiten" erklären, und gibt es allgemeine Ursachen für dieses Phänomen?

Dockter: Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Es gibt zu viele potenzielle Ursachen. Nur ein Beispiel: Man kennt etwa 8000 Stoffwechselschritte im menschlichen Körper. Sie alle - und in Kombination erst recht - bergen ein riesiges, bisher weitgehend unerforschtes Potenzial für leichte oder auch schwere Gesundheits-Defekte.

Die EU-Kommission will seltene Krankheiten besser erforschen. Ist das nicht zu kostspielig und hat wenig Aussicht auf Erfolg?

Dockter: Unbedingt macht Forschung auf diesem Gebiet Sinn, und es wird dann auch merkbare Fortschritte geben. Denn auch wenn eine Krankheit noch so selten ist, sie beruht immer auf einer Fehlfunktion des Körpers, die meist nicht nur eine Ursache hat. Das ist wie bei Computern. Erst fällt ein winziges Teilchen aus, dann das nächste, und irgendwann gibt es eine Kettenreaktion, die die ganze Maschine unbrauchbar macht. Übertragen auf den Menschen machen verstärkte Forschungsanstrengungen also in jedem Fall auch aus volksökonomischer Sicht Sinn.

Ratlose Ärzte, misstrauische Krankenkassen und starrende Passanten gehen oft mit seltenen Krankheiten einher. Wird sich dies jemals ändern können?

Dockter: Nein, es wird wohl immer so sein, dass wenn wir eine seltene Krankheit im Griff haben, die nächste schon lauert. Aber das ist kein Grund zum Resignieren. Schließlich war jede uns heute bekannte Krankheit zunächst einmal selten und unerforscht.

Hintergrund

In Europa wird eine Krankheit dann als selten klassifiziert, wenn sie höchstens eine unter 2000 Personen betrifft, in Deutschland sind es demnach weniger als 40 000 Menschen.

Die EU-Kommission informiert im Internet über seltene Krankheiten. Dort kann auch die neue Studie heruntergeladen werden: http://www.eurordis.org/secteur.php3

Die Allianz Chronischer Seltener Krankheiten (Achse) hat auf der Cebit ihr Portal vorgestellt: http://achse.info dr

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