Die Wahrheit nur in Scheibchen

Peking. Die Kette von Hiobsbotschaften aus dem japanischen Katastrophen-AKW Fukushima reißt nicht ab. Gestern erklärte die Betreiberfirma Tepco, dass es in den Reaktoren 2 und 3 wohl zu einer weitgehenden Kernschmelze gekommen sei, und zwar schon in den Tagen nach dem Erdbeben vom 11. März. Es ist das erste Mal, dass Tepco bestätigt, was Experten schon seit langem vermuten

Peking. Die Kette von Hiobsbotschaften aus dem japanischen Katastrophen-AKW Fukushima reißt nicht ab. Gestern erklärte die Betreiberfirma Tepco, dass es in den Reaktoren 2 und 3 wohl zu einer weitgehenden Kernschmelze gekommen sei, und zwar schon in den Tagen nach dem Erdbeben vom 11. März. Es ist das erste Mal, dass Tepco bestätigt, was Experten schon seit langem vermuten. Bisher hatte das Unternehmen nur von einer Kernschmelze in Reaktor 1 gesprochen. Für das späte Eingeständnis gibt es zwei mögliche Gründe, und beide sind gleichermaßen beängstigend: Entweder hat das Unternehmen einmal mehr versucht, die Öffentlichkeit über die Ausmaße der Katastrophe von Fukushima zu täuschen, oder der Kontrollverlust über die Krisenreaktoren war so vollkommen, dass Tepcos Experten tatsächlich mehr als zehn Wochen brauchten, um den Katastrophenverlauf zu rekonstruieren.So oder so ist offensichtlich, dass Tepco Informationen noch immer nur häppchenweise bekannt gibt. Skeptisch darf deswegen Tepcos Einschätzung beurteilt werden, die Situation in den havarierten Reaktoren sei "stabil" und könne bis Ende des Jahres vollständig unter Kontrolle gebracht werden. Mitte Mai hatten japanische Medien unter Berufung auf Unternehmensmitarbeiter berichtet, dass über die Unfallursache intern längst eine andere Theorie existiere, als nach außen kommuniziert werde. Demnach soll nicht erst der Doppelschlag von Erdbeben und Tsunami zum Ausfall der Kühlsysteme geführt haben, sondern bereits die Erdstöße allein. Dies würde bedeuten, dass die Reaktoren weitaus störanfälliger waren, als Tepco bisher zugegeben hat. Außerdem sollen schon in der Nacht nach dem Beben Messungen auf einen Strahlungsaustritt und eine Kernschmelze hingedeutet haben. Als dann die Situation außer Kontrolle geriet, soll das Unternehmen gegenüber Premier Naoto Kan (Foto: afp) die Absicht geäußert haben, die Rettungsarbeiten einzustellen, was Kan verhinderte.

Doch seitdem belasten die Berichte über Tepcos verheerendes Krisenmanagement auch die Regierung, die offenbar noch immer über viele Missstände im Dunkeln gelassen wird. "Wir haben die falschen Angaben von Tepco nicht aufdecken können. Darüber bin ich zutiefst unglücklich", sagte Kan vergangene Woche im Parlament. Für japanische Kommentatoren offenbart die Krise ein tieferes Problem: Die Politik ist in Japan traditionell so eng mit der Wirtschaft verflochten, dass die Unternehmen in vielen Branchen in der Lage waren, den Aufbau von effektiven und unabhängigen Aufsichtsmechanismen zu verhindern. Die Wurzeln liegen in der Nachkriegszeit. Die Liberaldemokratische Partei (LDP), die nach dem Zweiten Weltkrieg über ein halbes Jahrhundert lang regierte, rekrutierte ihre Eliten überwiegend aus Unternehmerclans. Informelle Netzwerke waren stets stärker als Regeln und Gesetze, was Japan erst einen unvergleichlichen Aufschwung bescherte, Ende der Achtziger aber einen ebenso dramatischen Einbruch, von dem sich das Land nie erholt hat. Zwar kam 2009 die Demokratische Partei Japans (DPJ) mit dem Versprechen an die Macht, die Strukturen aufzubrechen. Doch nun ist die DPJ selbst in den Fallen des Systems gefangen. Für Tepco geht es seinerseits ums Überleben. Ende vergangener Woche musste das Unternehmen einen Jahresverlust von umgerechnet 12,8 Milliarden Euro bekannt geben. An der Börse hat das Unternehmen 80 Prozent seines Wertes eingebüßt. Die gewaltigen Schadenersatzforderungen wird das Unternehmen nicht alleine aufbringen können, doch unter welchen Bedingungen die Regierung Tepco zu unterstützen bereit ist, bleibt vorerst unklar.

saarbruecker-zeitung.de/

japan

"Wir haben die falschen Angaben von Tepco nicht aufdecken können."

Regierungschef

Naoto Kan

Hintergrund

Eine Kernschmelze droht, wenn die Kühlung eines Atomreaktors ausfällt. Denn die atomaren Spaltprozesse setzen sich fort und erzeugen Hitze und Druck, auch wenn der Reaktor bereits abgeschaltet ist. Nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ist die erste Phase auf dem Weg zur Kernschmelze das Bersten der Hülle um die Brennstäbe bei 900 Grad. Wenn es gelingt, den Reaktorkern wieder zu kühlen, kann der Prozess unter Umständen gestoppt werden. Der Kernbrennstoff selbst schmilzt bei Temperaturen bis zu 2800 Grad.

Im schlimmsten Fall kommt es zur vollständigen Kernschmelze im Reaktor, die flüssige radioaktive Masse frisst sich durch den Boden des Reaktordruckbehälters. Eine Kernschmelze bedeutet aber nicht, dass in jedem Fall große Mengen Radioaktivität freigesetzt werden. Die Sicherheitsvorkehrungen sind so ausgelegt, dass eine Kernschmelze ohne katastrophale Verstrahlung der Umwelt beherrscht werden soll. So kam es 1979 im US-Reaktor Three Mile Island zu einer partiellen Kernschmelze. Dabei wurde zwar der Reaktorkern zerstört, doch kam es zu keiner verheerenden Katastrophe. dpa

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