Die Suche nach der verlorenen Zeit

Saarlouis · Waltraud ist weit weg, im Jahr 1955 . Sie wickelt ihre Tochter Dagmar mit Mullwindeln. Ärmchen hoch, das weiße gehäkelte Ausgehjäckchen an. Das macht sie so fix, dass ihre Betreuerin Heidi Scheuten nachfragt: Wie geht das noch mal, mit den Mullwindeln?

 Sabine Geith vom Museumsverband mit dem Bergbau-Erinnerungskoffer. Foto: Ruppenthal

Sabine Geith vom Museumsverband mit dem Bergbau-Erinnerungskoffer. Foto: Ruppenthal

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Und Waltraud, die kein Baby, sondern eine Puppe auf das Babykissen legt, kommt ins Erzählen, sie redet und redet, will gar nicht mehr aufhören. Über die Hebamme, ihre Angst, weil das Kind in den ersten drei Tagen "gebärt hat, dass die Heide wackelt". Damit meint sie jetzt ihren Sohn Peter und fragt Heidi: "wann ist die Kindtaufe?" Auf die Frage, wie alt sie ist, sagt sie mit Bestimmtheit: 17. Und wiegt und streichelt eine Puppe.

Menschen, die den Umgang mit Demenzkranken nicht gewöhnt sind, mag diese Szene befremden. Wie sich eine alte Frau, als sei sie ein spielendes Kind, in eine Phantasiewelt begibt. Doch die ist real, ihre eigene Biografie. Weil Waltraud (76) demenzkrank ist, hat sie ihr Zeitgefühl verloren. Für sie verschmelzen Geburtssituation, ihre Jahre als junge Mutter und der Moment in den Räumen der Saarlouiser Tagespflege-Einrichtung im Demenzzentrum Villa Barbara zu einer, zu ihrer Zeit-Wirklichkeit. Etwa 20 Gäste haben sich an diesem Nachmittag eingefunden, nur wenige Männer sind darunter. Drei Frauen lassen sich heute für den "Babykoffer" begeistern. Beim ersten Einsatz waren es mehr. "Wir hatten ein phantastisches Gespräch", berichtet Stefanie Mohra, die stellvertretende Pflegedienstleiterin. Dabei war sie zunächst recht skeptisch, "ob unsere Frauen die Puppen nicht als Kinderkram ablehnen würden." Doch jetzt hat sie bei Sabine Geith vom Museumsverband bereits den zweiten "Frauenkoffer" bestellt: Historische Haushaltsgeräte sollen rein. 1,4 Millionen Menschen in Deutschland gelten als demenzkrank, im Saarland geht man von 25 000 Fällen aus, mehrheitlich trifft es Frauen.

Sabine Geith vom Saarländischen Museumsverband hatte die Idee für die Erinnerungskoffer. Drei sind gepackt, mit Original-Exponaten unter anderem aus dem Museum für Mode und Tracht in Nohfelden, aus dem Ottweiler Stadtmuseum oder dem Erlebnisbergwerk Velsen: der Babypflegekoffer, der Bergbaukoffer für Männer und der Schulkoffer. Seit Sommer werden sie in der Tagespflege der Landesfachstelle Demenz erprobt. Geith sieht Museen als "Orte der Kommunikation ", die lokale Allianzen mit Senioreneinrichtungen eingehen sollten: "In den Dörfern gibt es keinen Bäcker und keine Kneipe mehr, aber das Heimatmuseum. Sie können gerade alten Menschen Teilhabe ermöglichen." "Für uns ist das eine richtig feine Sache", sagt der Landesfachstellen-Leiter Andreas Sauder. Demenzkranke seien verkapselte Menschen und die Heimatmuseen hätten die Instrumente, um sie zu öffnen.

Biografiearbeit gilt als Türöffner im Umgang mit Demenzkranken. Die Aktivierung des autobiografischen Gedächtnisses und das Wecken von Emotionen, sagen Forschungen, seien bei der Verlangsamung der Krankheit besonders wirksam. Denn Heilung gibt es nicht. Das Vergessen führt zu einem Versickern der Persönlichkeit. Viele Kranke wirken teilnahmslos und sprechen kaum. In Saarlouis erlebt man das Gegenteil, wenn Betreuerin Marianne Hoffmann Tintenfass, Ranzen, umhäkelte Taschentücher und Hemdschoner aus dem Schulkoffer zaubert. Eine Gesprächswoge läuft durch den Raum, laut und munter. Friedrich (79) schildert den natürlichen Eis-Kühlschrank in seiner Heimat Kasachstan und Dorothea (80) erklärt, dass man die "Sonntagskleider" nur in der Kirche anhatte und sofort nach der Heimkehr die Kittelschürze anziehen musste. Alltagsgeschichte von Zeitzeugen - die Rollen drehen sich um, die Kranken werden gebraucht. "Wenn Demenzkranke merken, dass sie nützlich sind, fühlen sie sich sicher, das steigert ihr Wohlbefinden", sagt Sauder. Sicher, auch ohne Erinnerungskoffer könne die Kommunikation munter ausfallen, berichten die Mitarbeiterinnen. Doch es sei mühsam, immer wieder neue Ideen für die Aktivierung zu finden. Die Koffer, beobachten sie, sorgen für eine unmittelbare Belebung: "Unsere Gäste sind wacher als sonst"

Sechs Mitarbeiterinnen betreuen rund 20 Gäste, ein erhöhter Betreuungsschlüssel. Im Haus Barbara befindet sich laut Sauder die einzige auf Demenz spezialisierte Tagespflege im Saarland. 70 Menschen nehmen sie in Anspruch; nur zehn Prozent der Betreuten lebt allein. Eine Erweiterung ist geplant: "Dann sind wir die größte ambulante Einrichtung dieser Art in Deutschland", sagt Sauder. Ziel sei, die häusliche Pflege zu stärken, indem man den Angehörigen die Möglichkeit bietet, die Kranken in gute Hände abzugeben. Und wie gut die sind: ein Schulterklopfen hier, ein Armstreicheln dort. Intensive Zuwendung und Körperkontakt gehören zwingend zum Konzept. Denn die Kommunikation mit Demenzkranken kann nicht ausschließlich über Sprache laufen. Vertrautheit ist wichtig. Bessere Träger als historische Dinge gibt es dafür kaum. Die Kranken fühlen die kühle Haut des blechernen Milchkännchens, ertasten das filigrane Muster des Häkeldeckchens, drehen die schwergängige Kaffeemühle. "Es geht direkt los mit dem Erinnern", sagt Geith. Die Suche nach der verlorenen Zeit muss nicht verbissen betrieben werden. Wer hätte gedacht, welch Schätze in saarländischen Heimatmuseen liegen?

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