"Die Strahlung hat kaum abgenommen"Urlaub in der TodeszoneDie atomare Katastrophe von Tschernobyl und die Folgen in Zahlen

Tschernobyl. Etwa zwei Kilometer vom Atomkraftwerk Tschernobyl ist die zerstörerische Kraft radioaktiver Strahlung ganz greifbar - in Pripjat. In die frühere sowjetische Musterstadt aus Beton kommt heute nur, wer eine Sondergenehmigung hat. Zwei junge Uniformierte bewachen an einem Check-Point mit Schlagbaum die Zufahrt

 Der ausgebrannte Kernreaktor von Tschernobyl fünf Jahre nach der atomaren Katastrophe. Foto: dpa

Der ausgebrannte Kernreaktor von Tschernobyl fünf Jahre nach der atomaren Katastrophe. Foto: dpa

Tschernobyl. Etwa zwei Kilometer vom Atomkraftwerk Tschernobyl ist die zerstörerische Kraft radioaktiver Strahlung ganz greifbar - in Pripjat. In die frühere sowjetische Musterstadt aus Beton kommt heute nur, wer eine Sondergenehmigung hat. Zwei junge Uniformierte bewachen an einem Check-Point mit Schlagbaum die Zufahrt. Selbst 25 Jahre nach dem Super-Gau im Reaktor 4 des ukrainischen Kernkraftwerks ist die Plattenbausiedlung hoch radioaktiv und unbewohnbar.Als am 26. April 1986 der Druckröhrenreaktor gegen 1.25 Uhr wegen einer Technik-Panne explodiert, schlafen die meisten der rund 50 000 Einwohner von Pripjat. Vor allem junge Familien leben in der noch jungen Stadt mit vielen Kindergärten und Schulen. Die Arbeit im Kraftwerk wird gut bezahlt.

Doch das Leben in der sozialistischen Vorzeigesiedlung endet abrupt. Rund 30 Stunden nach dem Gau - es ist der 27. April, 14 Uhr - beginnt die Evakuierung von Pripjat. "Achtung, Achtung! Verehrte Genossen!", beginnt der Aufruf der Stadtverwaltung. Es folgt die Anordnung, nur Dokumente und das Nötigste für die "zeitweilige Evakuierung" mit auf die Busreise ins Kiewer Gebiet mitzunehmen. Die meisten sehen ihre Wohnungen nie wieder. Nur wenige bleiben, um die Unglücksfolgen zu beseitigen. "Die Treue zur Heimat war wichtiger als die eigene Gesundheit oder das Geld", sagt der frühere Kraftwerksingenieur Nikolai Issajew. Als er am Unglücksmorgen um 7.45 Uhr zur Schicht kommt, gibt es keine Panik, wie er sich erinnert. Ein Kollege muss sich übergeben. "Die Messgeräte versagten unter der Last der Strahlung. Keiner konnte sagen, wie gefährlich das alles ist."

Auf dem Festplatz im Stadtzentrum Pripjats sind zu der Zeit für die Maifeiern ein kleines Riesenrad, ein Karussell und ein Auto-Scooter für Kinder aufgebaut. Diese stummen Zeugen von damals rosten seit einem Vierteljahrhundert in der verstrahlten Umgebung vor sich hin. Immer noch sind überall die verlassenen Häuserzeilen zu sehen. "Die Strahlung hat in all den Jahren kaum abgenommen", sagt Atomexperte Heinz Smital von der Umweltorganisation Greenpeace auf dem Festplatz. Der Zeiger seines Geigerzählers schlägt voll aus, als er das Gerät über die Erde hält.

"Wir waren damals glücklich", sagt Ingenieur Issajew. Der Fachmann für Wärmeanlagen lebt heute in der Nähe von Kiew, rund 100 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Issajew leitet eine der Organisationen für Liquidatoren. So heißen die Arbeiter und Soldaten, die nach dem Unglück zu Tausenden oft mit bloßen Händen zugepackt haben. Bei höchster Strahlenbelastung errichten bis November 1986 mehr als 300 000 von ihnen einen notdürftigen Schutzmantel um die Ruine des größtenteils eingestürzten Reaktors. Issajew bringt zu einem Treffen in Kiew eine lange Liste mit seinen Krankheiten, darunter eine chronische Leber- und andere Organentzündungen. "Ich hatte bis zu dem Unfall nie irgendwelche Beschwerden", sagt der 56-Jährige.

1991 muss Issajew das Kraftwerk aus Gesundheitsgründen verlassen. Bis heute kämpft er dafür, dass die Regierung die Zusagen und Gesetze für die Überlebenden von Tschernobyl einhält. Er beklagt, dass die Opfer-Gelder nicht voll ausgezahlt würden.

Das ganze Ausmaß der Katastrophe bekommt Issajew wie die meisten Arbeiter erst später mit. In der Unglücksnacht wollten Techniker in einer Notfallübung testen, ob die Turbinen im Reaktor bei einem Ausfall noch ausreichend Elektrizität produzieren, bis die Dieselgeneratoren anspringen. Doch wegen Konstruktions- und Bedienungsfehlern gerät das Experiment außer Kontrolle. Es kommt zu einer nuklearen Kettenreaktion und Kernschmelze. Die Wolke erreicht später auch weite Teile Europas.

Tage dauert es, bis die Sowjetführung das Unglück von internationaler Tragweite einräumt. Als der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, am 14. Mai endlich eine Fernsehansprache hält, empfinden das viele Sowjetbürger nur noch als Hohn.

Todesfälle: Zwischen 10 000 und mehr als 100 000 Todesopfer hat die Atomkatastrophe je nach Sichtweise bislang gefordert. Die Zahl schwankt, weil oft ein direkter Zusammenhang zwischen Radioaktivität und einer Krankheit oder der Todesursache schwer nachzuweisen ist. Krankheiten: Über 600 Millionen Menschen in Europa sollen nach Angaben von Atomkritikern gesundheitlich von der Katastrophe in Tschernobyl betroffen sein, weil sie erhöhter Strahlung ausgesetzt sind. Ärzte sehen darin ein Risiko für Krebs und andere Krankheiten. Evakuierung: Eine 30 Kilometer große Sperrzone um den Reaktor wird bis heute streng bewacht. Insgesamt war ein Gebiet von mehr als 200 000 Quadratkilometern in der Ukraine, Weißrussland und Russland stark betroffen. Mehr als 100 000 Menschen wurden umgesiedelt. Liquidatoren: Zwischen 600 000 und einer Million "Liquidatoren" hat die damalige Sowjetregierung für Aufräumarbeiten verpflichtet, die meisten von ihnen junge Soldaten. Mehr als 100 000 von ihnen sind nach Schätzungen gestorben. Über 90 Prozent gelten als schwer krank. Strahlung: Rund 190 Tonnen radioaktives Material lagern nach Schätzungen allein noch im Reaktor 4. Darunter sind Strahlengifte wie Cäsium, Strontium und vor allem Plutonium. Cäsium-137 ist über die Sperrzone hinaus in vielen Lebensmitteln nachweisbar. Sarkophag: Ein 29 000 Tonnen schwerer Sarkophag soll den Unglücksreaktor künftig abdichten - wann, ist aber unklar. Für das Jahrhundertprojekt sind 1,6 Milliarden Euro Baukosten veranschlagt. Die Maße: 110 Meter Höhe, 164 Meter Breite und 257 Meter Länge. Atomkraftwerk: Rund 3500 Menschen arbeiten heute noch in dem seit 2000 komplett stillgelegten Atomkraftwerk Tschernobyl. Sie fahren täglich in die Sperrzone, um vor allem die anderen drei Reaktoren zu sichern. Dort befindet sich noch nukleares Brennmaterial. dpa

Moskau. So einfach, so bequem, so günstig. Das ukrainische Tourismus-Unternehmen "Tour2Kiev" überschlägt sich geradezu mit positiv besetzen Worten. "Das Wichtigste ist, Sie kommen nach Kiew. Kein Visum, keine zusätzliche Versicherung. Sie nehmen dann unseren Bus. Und bereits am Abend können Sie wieder zurück." Es ist ein ganz besonderes Angebot: eine geführte Tour nach Tschernobyl, mitten in die Sperrzone, direkt vor den Beton-Sarkophag. Für 110 Dollar pro Person, plus zehn Dollar für ein Mittagessen in der Kraftwerkskantine.

Der ukrainische Staat will die verseuchten Gebiete 25 Jahre nach dem Gau für den Massentourismus entwickeln. Zwei Firmen haben bereits die Genehmigung erhalten, Gruppen durch die Todeszone zu führen, die so groß ist wie das Saarland. Die ukrainische Regierung hat mit "Tschernobyl Interinform" gar ein eigenes Unternehmen gegründet, um solche Touren anzubieten. Bisher durften nur Fachleute, Journalisten und kleinere Besuchergruppen die kontaminierte Gegend betreten. Nun sollen Menschen aus aller Welt freiwillig hierher kommen - als Abenteuertouristen. Mit Geigerzählern und Fotoapparaten ausgestattet.

Wiktor Baloga, Minister für Katastrophenschutz, nennt den Ausflug eine "Attraktion der besonderen Art". Oxana Nor, die Sprecherin des staatseigenen Reiseveranstalters, rechnet mit Besucherzahlen von bis zu einer Million pro Jahr. iha "Keiner konnte sagen, wie gefährlich das alles ist."

 Der ausgebrannte Kernreaktor von Tschernobyl fünf Jahre nach der atomaren Katastrophe. Foto: dpa

Der ausgebrannte Kernreaktor von Tschernobyl fünf Jahre nach der atomaren Katastrophe. Foto: dpa

Nikolai Issajew, früherer Kraftwerksingenieur

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